Rezensionen: Jimmy Brainless – Im Schein der Pfütze * Helena Adler – Miserere * Martin Peichl – Es sind nur wir
Zeichnungen: Eckholz und Oleg Estis
Preis: EUR 4.- (EUR 7.- außerhalb Österreichs)
Förder-Abo (4 Ausgaben): EUR 15.- (EUR 20.- außerhalb Österreichs)
Bestellung: Online, per E-Mail (dummail@gmx.at) oder unter 0664 / 4327973.
DUM-Interview: "WENN EINER 'UNTER SEINEN MÖGLICHKEITEN' BLEIBT ..." mit Jimmy Brainless
Leseproben aus DUM 112:
CÄSIUM
(Daniela Dangl)
In jenem Sommer, der dem April mit Tschernobyl folgte, stank es in unserer Küche erbärmlich nach getrockneten Maronenröhrlingen. Papa sagte, es stinke nicht, es rieche. Er vergrub seine Nase in den Backblechen, auf denen, fein säuberlich geschnitten, die zähen Pilze lagen. 1986 war ein prächtiges Schwammerljahr. Selten waren die Körbe so voll und die Wälder so menschenleer.
Stundenlang stapften wir allein durchs Unterholz und scannten den Waldboden. Wo ein Schwammerl stand, war auch irgendwo daneben ein zweites. "Genau schaun!", trichterte man es mir ein. Ich wurde dazu angehalten, mich nicht mit Blödeleien abzulenken, sondern Beute zu machen und mich im Forst zu orientieren. Schließlich wurden ausschließlich den eigenen Kindern die Geheimplätze verraten, jene, an denen fast immer etwas zu finden war. Dieser Schatz wurde gehütet wie Omas Nagerlsterzrezept. In diesem Sommer fanden wir die gelbsten Eierschwammerl und die bauchigsten Steinpilze. Wir hasteten beinahe durch den Wald, denn nicht selten sahen wir schon beim Abschneiden eines Pilzes den nächsten und einen dritten, vierten, fünften. Der Jagdinstinkt meiner Eltern war offensichtlich stärker als die Überzeugungskraft der Wissenschaftler, die vor dem Cäsium im Waldboden warnten. Die sowjetische Wolke hatte es in sich gehabt und die Meldungen überschlugen sich Tage später. Ich klebte vor dem Fernseher und sah verstörende Bilder.
"Waun de aundan ned gengan, bleibt uns mehr", sagte Mama. Stundenlang stand sie vor dem Abwaschbecken, putze Fichtennadeln und Erde von den Stielen. Sie erntete auch, früher als alle anderen, Spinat und Erbsen, denn Mama hatte nicht die zarten Triebe aus dem Boden gerissen, nachdem der radioaktive Regen niedergegangen war. Hysterisch nannte sie das Verhalten, Pflanzen wegzuwerfen und Erde abzutragen und wo auch immer zu entsorgen. "Wos soi sei?", fragte sie. Sie ließ keine besorgte Antwort gelten, quittierte die Angst der anderen vor Krebs mit einem Schulterzucken. "Geh bitte." Andererseits verbot sie mir Cola, weil das furchtbar schlecht für die Leber sei, und Süßigkeiten. Jedes Mal, wenn sichtbarer Zucker im Spiel war, griff sie durch. Also aß ich gesunde Schwammerlvariationen und trank selbstgemachten Ribiselsaft.
...
NATURGEWALTEN
(Angelika Polak-Pollhammer)
das ist der mit dem Dachschaden
rufen die Kinder deiner Straße
dir hinterher
denn hin und wieder
zuckst du zusammen
wimmerst
hältst dir die Hände über den Kopf
sie haben dich nie gefragt warum
wissen nichts
von dir und der Behaglichkeit
deines Elternhauses
von den Fäusten
deines Vaters
welche wie Hagel
auf dich einprasselten
wenn sich sein persönliches Gewitter
über dir entlud
VORM MAISFELD
(Veronika Steinkellner)
*Click*
Die Pflanzen waren erst etwa 50 cm hoch gewesen. Starke, junge Maispflanzen, die ihre grünen Körper selbstbewusst dem Himmel entgegengestreckt hatten. Ebenjenem Himmel, der sie dafür niedergestreckt hatte. Mit faustgroßen Hagelklumpen.
*Click*
Die nicht mehr ganz junge Bäuerin hockte sich am Rand des Feldes auf den matschigen Boden, strich mit der Handfläche über eine der gefällten Pflanzen und fühlte die noch regenfeuchten Blätter. Dicke Blätter, robuste Blätter. Aber nicht robust genug für den Hagelsturm, der vor einer Stunde übers Land gezogen war.
*Click*
"Geht jo wohl", murrte die Großmutter von der Seite. Endlich zufrieden mit einem der Bilder, die sie von dem zerstörten Feld gemacht hatte, senkte sie ihr übergroßes Smartphone und machte sich mit dem Arbeitswillen des unterdrückten Alters daran, das Bild zu posten. Nach nur wenigen Sekunden erklang ihre Empörung: "Susanne, es will scho wieda net!"
Ohne vom Feld aufzublicken oder sich zu erheben, streckte Susanne ihr die Hand entgegen und bekam das Handy übergeben. Die Hülle hing mit einem bunten Gurt um Großmutters Hals, weshalb die alte Frau sich etwas bücken musste. Aber nicht viel, denn trotz ihrer viel Raum einnehmenden Persönlichkeit, war sie eine sehr kleine alte Frau.
Susanne stellte das neueste Foto in den Whatsapp-Status der Großmutter.
"Willst was dazuschreiben?"
"Sicha - sonst kennan sich die Leut' jo net aus - schreib: ,Gottes Zorn'."
Susanne erhob sich, um auf die Großmutter herabsehen zu können: "Und du meinst, Gott hat grad uns für sein Zorn ausgsucht?"
Die schmalen Lippen in dem faltigen Gesicht erschienen nur, wenn die Großmutter sprach. Sonst gingen sie als fest zusammengepresster Strich nahtlos ins Gesicht über. Heute zeigte sie sogar eines ihrer seltenen, wenn auch nicht wohlwollend gemeinten Lächeln.
"Kind, i hobs eich gsogt: Auf dem Feld hots nie an Mais gebn und do sollts ah nie an Mais geben!"
...
ZUR FEIER DES TAGES
(Harald Vogl)
ist der bleistift fett | ||
wie ein radierer |
die sonne leicht | ||
benebelt |
und der himmel stern | ||
hagel | ||
voll |
der essig im öl |
und die salami blunzen | ||
fett |
selbst das rot ist | ||
blau |
und jeder türsteher | ||
hat einen | ||
sitzen |
KAFKA IM HEUTE
(Brigitte Krech)
Prolog: Am 30. Juli 2024, gegen die Mittagszeit, steht Franz Kafka verloren am Straßenrand in Kierling. Eigentlich will er nur gemütlich nach Klosterneuburg.
Der seltsame Mann starrt auf mich. Fragend. Seine Lippen formen Wortlaute. Er ist blass. Er hält ein vergilbtes Buch in der Hand, dessen Titel nicht mehr lesbar ist. Die Stimme klingt hölzern, brüchig. Was will der? Ich setze meinen Bluetooth-Kopfhörer wieder ab. "Entschuldigen Sie bitte, meine verehrte Dame." Ich blicke auf einen verstaubten Uralt-Anzug, in schwarz, mit grau-dunkelblauen Knöpfen. Er schwitzt in der Mittagssonne. Der Mann trägt einen altmodischen Zylinder, als ob er auf den Wiener Opernball will. Seine Augen fixieren die Bushaltestelle, den Asphalt, die Fußgängerampel, die auf grün steht, das Wahlplakat der Neos, den neuen Tesla, der am Straßenrand parkt.
"Krasser Typ!"
Oder ist das hier diese deutsche Show? Irgendetwas mit einer versteckten Kamera? Verstohlen blicke ich mich um. Ein weiterer Blick auf den Mann. Der hat aus einem Vintage-Shop einen richtig coolen Anzug abgestaubt. So etwas suchen wir für die Halloween-Party. Ich könnte ihn nach der Adresse seines Vintage-Shops fragen. Die sind bestimmt auf Instagram.
Der Mann blickt mein Mobiltelefon an, als hätte ich bei Armin Assinger in der ORF-Millionenshow gewonnen. Ich frage ihn ungeduldig: "Müssen Sie jemanden anrufen?" Unsichere Worte kommen aus seinem Munde. "Was ist das: dieser kleine dunkle Kasten in der linken Hand?" "Wissen Sie, wann die Droschke nach Klosterneuburg kommt?" Was will der Alte? "Meinen Sie Uber?" "Ist Droschke der Name ihres Uber-Fahrers?" Er kratzt sich mit der linken Hand am Kopf. "Was meinen Sie mit ÜBER?" "Über Kierling nach Klosterneuburg will ich mit der Droschke fahren." "Ich stehe schon sehr, sehr lange hier." "Aber ich weiß nicht, ob ich träume." "Sehen Sie das auch?" Er blickt in den Himmel. Sein Zylinder verrutscht dabei leicht. "Dieser riesige Vogel, dort oben in der Luft. Der hinterlässt einen weißen Schweif. Hört sich an wie eine Dampflokomotive." "Was ist hier passiert? Seit wann gibt es Riesen-Dampfvögel in der Luft?"
"Oida."
Glücklicherweise klingelt in diesem Augenblick mein Handy. "Atemlos" von Helene Fischer tönt über die Hauptstraße an der Bushaltestelle der Linie 400, unweit der Bücherei und des Heimatmuseums in Kierling. Der seltsam-sprechende, blasse Mann in dem Vintage-Anzug mit dem Opernball-Zylinder und einem antiken Buch in der Hand erschrickt. Stolpert einen halben Schritt auf die Straße. Blickt den Tönen hinterher. Stolpert einen weiteren Schritt auf die Straße.
Fast schreit er mich an. "Wo singt diese Frau? Wo haben Sie das Orchester versteckt? Warum singt diese Frau so hoch und so falsch?"
...