Mit: Ewald Baringer (Interview) * Constantin Göttfert * Bernhard Bachmann * Robert Anders * Thomas Schweißthal * Florian Loder * Herbert Hindringer * Julia Klöss * Malte Borsdorf * Janna Steenfatt * Katharina Bendixen * Jürgen Landt * Markus Köhle * Nadja Bucher * Stefan Rois * Cornelia Travnicek * Esther Strauß
Rezensionen: Ewald Baringer - Endlich Ruhe * Margit Schreiner - Buch der Enttäuschungen
Preis: EUR 3,30.-
Förder-Abo (4 Ausgaben): EUR 13.-
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Leseproben aus DUM 36:
MARZIPAN
(Constantin Göttfert)
Wir saßen auf der Terrasse und rauchten Peter Stuyvesant
meines Vaters. Alex sprach wenig, legte den Kopf auf die
weiche Polsterung der Gartenliege und kam mir damals viel
älter vor, als er tatsächlich war. Manchmal sehe
ich ihn heute noch vor mir: die Augen geschlossen und die
Zigarette senkrecht über seinem Mund, damit er die
Asche nicht abtippen muss und wünsche mir, er könnte
noch immer hier liegen und sich die trockenen Lippen lecken.
„Kennst du Peck?“, fragte er damals.
Er sprach leise, darum bemüht, es unbedeutend klingen
zu lassen, doch er verriet sich, indem er sich umsah, als
würde er nicht wissen, dass wir allein waren. Ich weiß
noch, dass im gleichen Moment die Kirchenglocken in der
Stadt zu läuten begannen. Wir erschraken, als hätte
uns plötzlich jemand von hinten an der Kehle gepackt.
Dann lachten wir beide über den Schrecken, husteten
und ich sagte: „Nein. Wer ist das?“ und stieß
den Rauch gegen das Glockenläuten.
Wir verloren uns bald aus den Augen. Die Dinge änderten
sich und wir machten da keine Ausnahme: Vater hatte aufgehört
zu rauchen. Die Peter Stuyvesant mussten wir nun kaufen.
Die Stimmung, wie wir sie damals an jenem Tag auf der Terrasse
erlebt hatten, kam nie wieder. Wir verabschiedeten uns an
jenem Abend ohne zu wissen, dass wir uns so lange nicht
wieder sehen würden.
Am nächsten Tag war Alex fort. Er erschien nicht mehr
in der Schule und ich führte lange Gespräche mit
seiner Mutter. Sie fragte nach jedem Wort, das wir gewechselt
hatten, nach jeder dieser letzten gemeinsamen Minuten und
ich warf ihr Stück für Stück genau jene Geschichte
vor die Füße, die sich nur in ihrem eigenen Kopf
abgespielt hatte und die sie so dringend von mir hatte hören
wollen. Sie war dankbar. Ich musste immer wieder kommen,
musste ihr erzählen von Alex. Oft hatte ich das Gefühl,
dass sie ihn gar nicht richtig kannte, dann wieder, dass
ich von einem Fremden erzählte, der nur in ihrem und
meinem Kopf existierte, der nie und nimmer Alex sein konnte.
Schließlich war ich mir selbst nicht mehr ganz klar
darüber, was wirklich geschehen war an jenem Junitag
und ich ertrug es nicht länger, die heiße Tasse
Früchtetee in der Hand zu halten, ihr vertrocknetes
Gesicht anzusehen und ihr immer die gleichen Antworten auf
immer die gleichen Fragen zu geben. Ich brach den Kontakt
ab. Seither habe ich auch sie nie wieder gesehen.
PERLEN VOR SÄUE
(Julia Kloess)
wann endlich
sag mir das
werde ich satt und sicher
sein und zufrieden
genießen – was ich nicht ändern kann?
ist das das glück
von dem alle sprechen?
wochenrythmus
darin stückweise
freiheit wie perlen
vor säue
was willst du denn?
– setzen mir kalenderblätter entgegen
und die welt vor dem fenster
die zeit wartet nicht
nur ich
FUNDAMT
(Malte Borsdorf)
An einem Bahnhof in Wien
Zog ich mir eine Cola oder
Etwas anderes – es war einer-
Lei. Und in der Lade lag
Ein Bündel fest verschnürt.
Es war mit einem dumpfen
Klang dort angelangt und
Hätt es noch gelebt, es hätt
Geschrieen wie ich es nicht tat
Als ich es sah; ein Säugling
Mit roter Haut der friedlich
War und verkrochen in sich
War es wichtig? Wohl nicht.
ZEITVERTREIB FÜR EINE NACHT
(Katharina Bendixen)
Ich habe meinen Obermieter mit einer Küchenschere von
WMF erstochen. Vorher wusste ich nicht, was WMF bedeutet,
ich habe es, als ich wieder in meiner Wohnung war, im Internet
nachgesehen. Württembergische Metallwarenfabrik. Schon
merkwürdig, was die Württemberger mit meinem Obermieter
gemacht haben.
Meinen Verstand, den ich auf dem Weg von der zweiten in
die dritte Etage auf dem Fensterbrett der halben Treppe
verloren hatte, habe ich auf dem Rückweg wieder eingesammelt
und alle Spuren davon mit meinem T-Shirt abgewischt. So
eine Sauerei. Was soll man aber auch machen, wenn man Samstagabend
das letzte Buch aus dem Bücherregal fast fertig gelesen
hat und noch nicht bereit ist, sich Stunden im Bett herumzuwälzen
und mit den sich nicht schließenwollenden Augenlidern
zu kämpfen.
Die immer wieder aufklappen wie bei Puppen, die man hinsetzt
und hinlegt und hinsetzt und hinlegt und hinsetzt und hinlegt
und. Die Puppen heute können auch sprechen und ins
Höschen machen und haben sogar schon Namen, wenn man
sie kauft.
Das hätte mir damals viele mühsame Überlegungen
erspart und meinen Puppen einige Persönlichkeitsstörungen,
denn je nachdem, wer gerade meine beste Freundin war –
und das konnte sich täglich ändern –, gab
ich ihnen ihre Namen, und ich glaube, das hat ihnen nicht
nur Haarausfall, sondern auch ernsthafte Probleme mit ihrer
sowieso schon künstlichen Identität beschert.