DUM NR. 109

THEMA: SCHNEE
Von Gefühlskälte bis Après Ski
Mit: Erika Kronabitter – Interview * Daniela Dangl * Marlies Blauth * Charlotte Zerz * Katharina Sachs * Sophie Vizthum * Mathis Zojer * Petra Pribitzer * Angelika Polak-Pollhammer * Christine Rainer * Sylvia Bacher * Harald Vogl * Arthur Bartl * Christian Schwetz * Daniela Daub * TECHNIK! WIE JETZT? (Mia Oetjen * Julijan Mirkovic * Heidi Graf * Gabriel Neuhauser * Abas Mohammad) * Detlef Seydel * Brigitte Thurner * Irene Zoller * Cleo Nox * Elisabeth Hafner * Martin Peichl * Werner Stangl * Thomas Kranabetter * Olaf Lahayne * Michael Georg Bregel * Manfred Kowatschek * Sophia Magdalena Wichelhaus * Andrea Heinisch * Alexander Sprung * Marlene Schulz * Robert Höpfner * Isabel Stumfol * Anja Malenšek * Franziska Zussner * ChristiAna Pucher * Gerlinde Schwarz * Max Aichmair * flimmern.fischen

Rezensionen: Nino aus Wien – Kochbuch Take 16 * Dominika Meindl – Selbe Stadt, anderer Planet * Klaus Wieser – Onkel Emmerich / Gruber Geschichten

Zeichnungen: Eckholz, Oleg Estis

Preis: EUR 4.- (EUR 7.- außerhalb Österreichs)
Förder-Abo (4 Ausgaben): EUR 15.- (EUR 20.- außerhalb Österreichs)
Bestellung: Online, per E-Mail (dummail@gmx.at) oder unter 0664 / 4327973.

DUM-Interview: "DENKBLICKRAUM VOLLE KRAFT VORAUS" mit Erika Kronabitter



Leseproben aus DUM 109:


OMAMA
(Daniela Dangl)

Wann begann das mit dem Vergessen? Als der letzte Märzschnee gefallen war und die abgetretenen Stufen den Windfang hinauf zugedeckt hatte? Niemand mehr nahm den alten Reisigbesen in die Hand, um vor der Tür zu kehren. Keine Fußspuren in den Garten hinaus, weil auch niemand mehr neue Meisenringe in den Kirschbaum hängte. Du hattest Mitleid mit den Wintervögeln; im Sommer waren die Stare vor den Steinen nicht sicher, die du nach ihnen warfst, weil sie im Dutzend die reifen Früchte stahlen. Sobald aber die ersten Holzscheite im Ofen brannten, sah ich dich warmes Schmalz und Sonnenblumenkerne in leere Klopapierrollen gießen. "Jetzt kummt wieda de Zeit!" Dein harter Zug um die Mundwinkel sagte alles. Auch wenn er unschuldig weiß war, konntest du Schnee nicht leiden und machtest dem Saum auf dem Gehsteig auch noch fünf Häuser weiter mit Besen und Schaufel den Garaus. Dazu jedes Jahr kiloweise Salz. Niemand sollte das Gleichgewicht verlieren, keinem sollte das Eis den Boden unter den Füßen wegziehen, kein schmerzender Körper sollte im Matsch liegen müssen. Trotzdem rieten dir die Leute, dich nicht um das Wohl der anderen zu kümmern und besser vor der eigenen Tür zu kehren. Genug gäbe es dort zu tun!

Ich verstand das damals nicht; es war immer blitzblank bei dir, egal zu welcher Jahreszeit. Sogar die schäbig gewordenen Steinfliesen auf der winzigen Plattform unterhalb des Badezimmerfensters hattest du mit Betonmilch ausgegossen, damit niemand etwas sagen konnte, nicht der Briefträger, der dir jeden Monat die Witwenrente brachte, und nicht die alten Weiber, die dir Gesellschaft leisteten. "De oidn Weiwa" - deine Worte, obwohl sie jünger waren als du. Sie kamen vorbei, um über ihre Enkel zu reden, von denen alle etwas geworden waren. Ausnahmslos Überflieger und die Mädchen makellos schön. Du widersprachst den Lobhudeleien, sagtest, dass es so viel Glück nicht geben könne. "Dazöh ma nix!", waren deine Worte, "irgendwo wird's scho wos haum!"
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GENIE DES GEFÄLLES
(Mathis Zojer)

Die Hölle, das sind die anderen, und die allerschlimmste aller Höllenqualen, das ist die Hüttengaudi. Als sich Satan eine Überdosis Rauschgift spritzte und gerade den psychotischen Schub seines Lebens erlitt, ersann er das Après-Ski. Ich stehe inmitten eines Gedränges von brüllenden Geisteskranken. Wenn sie nicht gerade brüllen vor Lachen, brüllen sie einander etwas ins Ohr, was jedes Mal zur Folge hat, dass sie wieder brüllen vor Lachen. Jedes ihrer Worte sorgt für Gelächter, also muss wohl jedes ihrer Worte ein Witz sein. Ich verstehe nichts davon, höre nur das betäubende Gestampfe stumpfsinniger Hitmusik, den sinn- und satzzerfetzenden Baustellenlärm der Verblödung, jedes Lied eine akustische Planierraupe, die sich über die Gehirnwindungen wälzt, um der kollektiven Schuhplattler- und Schenkelklopfer-Idiotie den Weg zu ebnen. Bände einer Enzyklopädie des Wahnsinns spricht das, was ich sehe, auch ohne Worte. Kein Gesicht, das nicht von Lachkrämpfen zu einer zuckenden Fleischmasse verzerrt wäre. Lauter von den streuenden Tumoren der Heiterkeit, den Ulzera des Ulks, entstellte Visagen, denen nichts Menschliches mehr anhaftet, abstruse Perchtenlarven, Arschgesichter, mit einem unkontrollierbaren Schließmuskel an Stelle des Mundes, zerrüttet von feuchtfröhlicher Gemütsdiarröh, die ganze Mimik ein einziger Fäkalausdruck, unaufhörlich hervorquellende Fazialfaezes, auf den Schädeln verschmiert in zotigem Expressionismus. Allmählich begreife ich: Nur brüllend vor Lachen ist die eigene Erbärmlichkeit zu ertragen. Nur durch das radikale Ausradieren des Ernsts, durch die absolute Verkalauerung der menschlichen Sprache lässt sich der sich selbst anwidernden leibhaftigen Lächerlichkeit Genugtuung verschaffen. Mein Bewusstsein trübt sich ein, ein Schutzmechanismus, der mich nicht vor der großen Frage bewahrt: Was zum Teufel mache ich hier an diesem Hotspot sozioinfernalischer Pein? Immer wieder muss ich mich daran erinnern, dass ich wegen ihr da bin. Wegen der M. Sie wird auf einen Sprung vorbeischauen, hat es von Seiten des Veranstalters, ihres Sponsors, geheißen. Große Promotion-Party. Powered by. Es gibt keine Ereignisse mehr, nur noch Events.

Die M. Das allerliebste Skihäschen der Nation, ein Bild von einem reschen Madl, gefüttert von den Sponsoren, gefeiert von den Fans, gehätschelt von den Medien, umworben von publicitygeilen Szenewirten und anderen Vertretern der sogenannten Society. Unsere untote Gesellschaft, eine Rotte von lauter schmatzenden Wiedergängern, zeigt ungeniert ihre grauenvolle Fratze, wenn die Society in die Kamera grinst. Und die M., in ihrer kindlichen Arglosigkeit, lässt sich von jedem in parfümiertem Kaschmir gewandeten Arschloch auf die Schulter klopfen.
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BLICKKONTAKT
(Petra Pribitzer)

zamgrollt auf a nusskipferl
liegst du im eingang von dem gschäft
eigwickelt in dein schlofsock bis zu de uawaschln
weus in da nocht scho koid is
i bin donkboa, dass i grod
aus meiner woamen wohnung kumm
du bist scho so hoib woch
blinzelst
und schaust mi o
grod, wie i di oschau
i mecht da gern a göd gem
fia a woames fruastuck wenigstens
oba do bin i scho vorbei
und i gib da kans
i waß a ned warum



KURZ VOR DEM ZIEL
ODER
EIN ZWEITER DURCHGANG OHNE UNS

(Harald Vogl)

den traumlauf im kopf
verlieren wir
in führung liegend
den schwung
auf ruppiger piste
kippen wir
mit blicken
aus blankem eis
bessere tage
ins spurlose weiß
verschlagen
fädeln wir ein
mit der frage

wo haben wir bloß
unsere zeit
liegen gelassen



SCHNEESCHLATZ
(Sophia Magdalena Wichelhaus)

Jetzt erinnere ich mich, wie alles anfing: das viele Spazierengehen und Auf-dem-Dach-stehen. Ich kannte den Prozess nicht (mehr); ich brauchte die kalte Nachtluft und das Tanzen im Schnee, den Ingwertee und die vielen Zigaretten.
Ich brauchte (vor allem) die Aussicht, die sich auf alles außer mich richtete. Ich brauchte die Menschen in den Wohnungen gegenüber, in die ich hineinsehen konnte, anonym. Eine Wiener Winternacht, schwer von zu vielen Wassermolekülen, aus denen kein Schnee werden konnte, hat mich gehalten, während ich im grauen Restschlatz auf einer Gemeinschaftsterrasse im Dunkeln stand; noch einmal: zu viele Wassermoleküle.
Ich war Beobachterin. Geburtstage, Filmabende, Kinder, die ins Bett geschickt werden, aber noch herumhüpfen wie Flummibälle (puh).
Ich war ein Schlot für Bilder, die nicht meine waren; und ein Rauchfang. Der Rauch ist hinein in mich und durch meine Lungen gewabert, daneben war eine große Leere. Ein stiller Raum. Wenn der Rauch Augen gehabt hätte, hätte er die Leere und die Stille gesehen. Dass Lungen atmen und ein Herz schlägt, und daneben den seltsamen Ort, der alles mögliche anzieht, aber nicht aufbewahrt. Ein schwarzes Loch, in dem es wind- und totenstill war. Trotzdem hatte es inne: ein seltsames Wummern, ein Gähnen, eine Saugkraft. Eine verschlingende Manier.
Ich musste wirklich aufpassen - alles fiel in dieses Loch hinein. Oft gab es nicht viel zu tun, das stille, aber gierige Gähnen zu besänftigen. Das Gehen half, auch das Tigern durch den Schneeschlatz auf besagter Terrasse. Manchmal auch, zu beobachten, wie Menschen, die ich gern habe, sich umarmten - weil sie sich gern haben.
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