DUM NR. 111

THEMA: REGEN
Von Aufregen bis Regenbogen
Mit: Dominika Meindl – Interview * Hans Kumpfmüller * Robert Höpfner * Simone Schmitt * Jutta Krähling * Daniel Fritsch * Julia Costa * Frida Großhammer * Daniela Dangl * Hannes Thauerböck * Thomas Kranabetter * Florian Mittl * Irena Brežná * Florian Wessels * Eva Adelbrecht * Cornelia Koepsell * Eva Woska-Nimmervoll * Claudia Woitsch * Anne Bartusel * Irena Habalik * Roger A. Freiburghaus * Susanne Strittmatter * Robert Anders * Wolfgang Oertl * Gudrun Breyer * ChristiAna Pucher * Britta Mühlbauer * Iris Gassenbauer * Maximilian J. Modl * Silke Gruber * flimmern.fischen

Rezensionen: Daniel Stögerer – Luzia – Kindheit zwischen zwei Kriegen * Othmar Pruckner – Donauabwärts * Jessica Lind – Kleine Monster

Zeichnungen: Oleg Estis

Preis: EUR 4.- (EUR 7.- außerhalb Österreichs)
Förder-Abo (4 Ausgaben): EUR 15.- (EUR 20.- außerhalb Österreichs)
Bestellung: Online, per E-Mail (dummail@gmx.at) oder unter 0664 / 4327973.

DUM-Interview: "ASZENDENT NACKTSCHNECKE" mit Dominika Meindl



Leseproben aus DUM 111:


IM REGEN (STEHEN GELASSEN)
(Daniel Fritsch)

Lange hatte sie gebraucht, die klobigen Schuhe anzuziehen. Alles wurde schwerer im Alter. Doch sie hatte geübt in den letzten Wochen, dreimal am Tag. Normalerweise übernahm das die Schwester, doch heute hatte sie es alleine schaffen müssen.
Ungesehen musste sie von ihrem Zimmer zum Ausgang gelangen, jetzt, während alle anderen noch beim Frühstück saßen. Das war der schwierigste Teil, dachte sie. Wenn sie ihren Plan mitkriegen würden, wäre alles schon am Anfang aus. Sie schauderte bei dem Gedanken. Hier hatte sie alle anderen anlügen können, all die Jahre, nie war ihr auch nur ein Wort über die Lippen gekommen.
Langsam schob sie den Rollator auf den Flur des Altersheimes, spähte um die Ecke, es war niemand zu sehen. Doch sie war sich sicher, dass hinter ihr auf dem Flur die Türen aufgingen, sie konnte sich nur nicht schnell genug umdrehen. Doch sie fühlte es, fühlte genau wie die stummen Blicke ihr nachsahen, hasserfüllte, traurige Blicke, die sie schon immer verfolgten, und je weiter sie zurückschaute, desto mehr wurden es.
Doch niemand hielt sie auf. Neben der großen gläsernen Eingangstür lehnte sie sich an die Wand, angespannt, beide Hände am Rollator. Der dünne Regen schnürte im Licht der Scheinwerfer, als sie das Taxi auf den Parkplatz fahren sah.
...



LANDFLUCHT
(Daniela Dangl)

Seit zwei Wochen besaß ich den Führerschein und die Welt war für mich größer geworden. Raus aus dem faden Nest! Die Sonne stand tief. Ich bretterte die Bundesstraße entlang und hatte Fritz mit seiner Radarpistole zu spät gesehen. Er musste den weißen Golf am Feldweg neben dem Kukuruzfeld geparkt haben und war in Deckung gegangen. Noch nie hatte ich ihn hier lauern sehen und ausgerechnet heute war ich zu schnell dran, weil es mit dem Kino eng wurde! Jetzt konnte ich nur noch hoffen.

Während mir die roten Aufregungsflecken über den Hals ins Gesicht krochen, hielt ich Mamas Wagen am Bankett der Wegeinfahrt. Noch bevor ich das Seitenfenster runterließ, richtete ich meinen Blick auf das Gendarmerie-Auto, das tatsächlich im Acker stand. Niemand sonst zu sehen. Das war gut. Fritz nahm seine Schirmkappe vom Kopf und beugte sich zu mir. Er zeigte mir das Display der Radarpistole, schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. "Waast wos? Foa weida und loss ma in Votta schee griaßn!" Papa hatte Fritz den Saunabereich im Keller gefliest. Eine Hand wäscht die andere. Im Rückspiegel sah ich einen zweiten Gendarmen aus dem Wald daneben kommen. Wahrscheinlich hatte ihn die Blase gedrückt. Gott sei Dank.

Nichts passierte am Land ohne Verschränkungen. Ich hatte es mir in diesem Netz gemütlich gemacht, hatte nur am Rande registriert, dass es so etwas wie Schuldscheine gab. Lange schaukelte ich durchs Leben, ohne mir eingestehen zu müssen, wie tief diese Schnüre alltäglicher Abhängigkeiten mit den Jahren ins Fleisch schnitten. Die ersten Druckstellen waren bald zu spüren. Immer öfter musste ich es hinnehmen, dass meine Freiheit weniger wurde, die Zugeständnisse mehr: Ich hielt den Mund, als mich mit achtzehn die Apothekerin maßregelte, ordentlicher in der Kirchenbank zu sitzen - die Travocort gab es sonst nur auf Rezept -, und ich schwieg zu den Schreitiraden des Dirigenten in der Blasmusikprobe. Auch wenn alle Klarinetten die Augen verdrehten und mehr noch über die schaumigen Mundwinkel lachten als über die verschrobenen Ansichten, galt es, einem Kapellmeister und Sparkassendirektor nicht zu widersprechen. "Wos, waun man braucht?"
...



ENTREGUNG
(Thomas Kranabetter)

Es ist oft schon beim gegenseitigen Ausziehen, beim Rauswinden aus der jeweils eigenen Hose, diesen fast bürokratischen Handlungen mit entsprechender Eleganz, dass der Hauch von Leidenschaft, dass die Nähe, dass das Zweisame sich verflüchtigt. Die gelernten Gesten, die wiederkehren, die sich wiederholenden Muster, die sich über Monate, über Jahre etabliert haben, nachdem die Hände schon vielfach überall waren, sich Ritzen, Falten, sich Muttermale und erogene Zonen eingeprägt, sich mechanisch abarbeiten. Man kennt die Stellen des anderen, die, an denen mehr passiert, gelacht, an denen zusammengezuckt wird. Es wird zu technischen Abläufen, technischen Berührungen, technischen Küssen, am Ende welcher du keinen Augenkontakt haben willst, am besten schon währenddessen, manchmal auch davor. Die Resignation im Ausdruck, die leeren Augen, die überspielten Bewegungen möchtest du mit niemandem teilen und suchst dir Vorwände, dich wegdrehen zu können, um niemanden betroffen zu machen, um kein Gespräch zu führen, welches ihr beide nicht führen wollt.
Das Verspielte, das Fallenlassen, das Nahe, es ist schon lange in dir verblasst.



SCHILLERND
(Eva Adelbrecht)

Die Strahlen der späten Nachmittagssonne lassen die ölige Flüssigkeit, die langsam in die Pfütze sickert, in allen Regenbogenfarben schimmern. Das Blut mischt sich nicht darunter. Der Kopf des Jungen, der zuerst mit, dann ohne Helm so hart am Boden aufgeschlagen hatte, dass das Leben nicht mehr mithalten konnte, liegt zusammen mit dem Rest des reglosen Körpers einige Meter weggeschleudert vom Moped. Unerreichbar für die Pfütze. Schön, könnte man sagen, die Schlieren im Farbspektrum des Regenbogens im Wasser, doch eher bleibt nur das Sch... und den Rest denkt man sich. Dieses Ensemble lässt den Gedanken an Ästhetik im Keim ersticken. Dreckiges Resultat einer eiskalten Hetzjagd. Der jüngere der beiden Polizisten springt zuerst voll Tatendrang aus dem Skoda Octavia Combi 4x4, muss sich ob des Anblicks jedoch kurz ins Unterholz übergeben, bevor er zur Amtshandlung schreitet. Oder ist das nun eher ein Akt der Verzweiflung als von Amtes wegen? Er dreht den Jungen zu sich, begegnet dessen starren Augen, sieht das Blut seitlich aus dem Schädel sickern, flüstert wiederholt "Scheiße, Scheiße, Scheiße", dann blickt er über seine Schulter zu seinem älteren Kollegen. Was kommt ihm entgegen? Ein vorwurfsvoller Widerblick oder ein kollegiales "Nur mit der Ruhe, wir drehen das schon so hin, dass wir aus dem Schneider sind"? Am ehesten Ratlosigkeit, wenn auch dienstälter, hat der Zweite so etwas noch nicht erlebt.

Es gibt Momente, da lässt sich an Offensichtlichkeiten nichts verdrehen. Wenn ein toter Jugendlicher neben seinem zerschrammten Moped liegt und das Benzin aus dem Tank in eine zufällig danebenliegende Pfütze sickert, kann sich die Frühsommersonne noch so Mühe geben, sie wird es nicht schöner machen. Die Wut auf einen Sechzehnjährigen muss groß sein, dass man ihn zuerst über die Landes-, dann über die Orts- und selbst über die Forststraße hetzt, um ihn dieses Mal ja nicht, ja nicht!, entwischen zu lassen. Aktenkundig, vorgewarnt, bekannt. Alles von ihm bekannt, Name, Wohnort, Mutter. Man könnte ihm einfach abends einen Besuch zu Hause abstatten. Ganz offiziell, ganz ruhig, mit Dienstausweis, Tatbestand und so weiter. Man könnte. Man tut allerdings anders.
...



Irena Habalik

Frag den Regen
er weiß es
hat
ein reges Leben
und ist
täglich
reingewaschen
Mit dünnen
Fäden
verbindet er
Oben und Unten
Frag ihn
ob im Himmel
so
wie auf Erden