©M.Heidl
WAS PASSIERT, PASSIERT

Martin Heidl interviewt: Andrea Kern
Es hat rosa Blüten geregnet vom Baum visavis an dem sonnigen Frühsommersonntag am 17. April vormittags, und wir sind vor'm "Berfin" gesessen am Siebensternplatz in Wien; immer wieder umgarnt durch die Theaterstimmen von nebenan. Was für eine Stimmung, Andrea Kern und DUM - Das Ultimative Magazin haben sich zum Interview getroffen.

DUM: Du bist 1989 geboren, in St. Pölten, und in Markersdorf an der Pielach aufgewachsen; und du hast bereits zwei Romane im Picus Verlag veröffentlicht, mit den - sagen wir - äußerst schwierigen Themen, auf die sich eine junge Autorin einlassen kann. In "Kindfrau" wird eine Mißbrauchsthematik abgehandelt und in "ErHängt Wir fallen" ein Selbstmord und die Folgen für die Familie. Warum?

Mir geht es um die Geschichten des Lebens. In meinem Umfeld haben sich mehrere Suizide im Laufe der letzten Jahre zugetragen - das hat mich dann doch sehr geprägt. Der Roman ist nicht autobiografisch, aber es fließt sehr viel aus Gesprächen und Erlebnissen meiner Mitmenschen hinein. Was auch in "Kindfrau" so ist: das heisst, es ist definitiv nicht "Meine" Geschichte.

DUM: Beide Romantitel sind bildstark, im wahrsten Sinne des Wortes; hinterlegt mit den schemenhaft wirkenden ProtagonistInnen?

Die beiden Fotografien sind vom Verlag gestaltet worden. In der Titelgebung war beim ersten Roman nach zehn geschriebenen Seiten die Kindfrau einfach da. Beim zweiten hatte ich zuerst vor, einen englischen Titel zu nehmen "We love, go to hell", doch von dem bin ich dann abgekommen und habe einen deutschsprachigen vorgezogen. Der allerdings auch doppelsinnig zu sehen ist; einerseits Statik andererseits Bewegung.

DUM: Wie sehr identifizierst du dich mit deinen Romanfiguren?

Das ist mitunter sehr schwer für mich. Die Angelika in "Kindfrau" ist eher eine passive Frau; sie lässt ihr Leben passieren, reflektiert nicht; so bin ich nicht. Die Figur hat sich beim Schreiben so entwickelt. Sie wird dann schwanger, was auch so passiert. Wo sie mal ausbricht aus ihrem Muster ist, als sie im Hotel ihrem damaligen "Geliebten" nachgeht, das ist eher eine Affekthandlung und nicht geplant gewesen von ihr. Im zweiten Buch waren mir die beiden Frauen schon sehr nah, da diese Geschichte einen realeren Hintergrund hatte.

DUM: St. Pölten scheint ein gutes Pflaster für Autorinnen zu sein, wenn ich an Cornelia Travnicek und Milena Michiko Flašar denke. Wie bist Du zum Schreiben gekommen? Wann hat das begonnen?

Das hat mit St. Pölten wenig zu tun. Ich bin im Stiftsgymnasium Melk zur Schule gegangen und da hatte ich über die Jahre hindurch die Möglichkeit an einem Schreibkurs teilzunehmen - übrigens bei der Schwester von Paulus Hochgatterer - und so hat es begonnen. Zuerst mit Lyrik und ca. ab 20 mit Prosa. Da hab ich mich dann schon mit "Kindfrau" beschäftigt. Das Buch schrieb ich in einem halben Jahr nieder, das Ende dann erst später in Hongkong , da der Verlag Druck gemacht hat und ich musste von unterwegs ein "Ende" liefern ...
Nach der Matura bin ich nach Wien gegangen und ich genieße es sehr in Wien zu leben.

DUM: Du schreibst ausschließlich in Wien?

Zum Teil. Meinen zweiten Roman, "ErHängt Wir fallen", hab ich mehr stückweise geschrieben; war zwischendurch mal auf Reisen und hab dann wieder weitergearbeitet. Hat dann insgesamt ein Jahr gedauert. Aber die meiste Zeit schreibe ich in Wien in meiner Wohnung an meinem Schreibtisch. Ganz unspektakulär.

DUM: Wie sieht dein Schreiballtag aus?

Zuallererst versuche ich den Alltag auszugrenzen, indem ich Lyrik lese. Zum Beispiel gelingt es mir besonders gut mit Erich Fried oder Janet Fitch. Zehn Minuten später beginne ich dann und schreibe den ganzen Tag. Einen groben Geschichtenverlauf habe ich im Kopf, bzw. auf Schmierzetteln notiert. Ich begebe mich in die Figuren hinein, spüre sie, deren Lebensumstände, und daraus entwickelt sich der Roman; auch "Zweite Reihegeschichten" entstehen so.
Wichtig ist mir die richtige Balance zwischen Leben, Tod und Trauer zu finden. Und das ist die große Herausforderung für mich neben der literarischen Form. Manche Menschen meinen: "Andrea jetzt schreib mal was Fröhliches!", und ich sage dann, dass eh immer eine Liebesgeschichte vorkommt.
Ich bin ja sonst ein sehr fröhlicher Mensch, und genieße gern das Leben; dazwischen fühle ich mich in die Figuren hinein und schreibe über deren Leben.

DUM: Möchtest du das Schreiben zum Beruf machen?

Die Schriftstellerei ist nicht mein einziger Lebensinhalt. Was passiert, das passiert und das freut mich; der Rest ist okay. Ich bin jetzt nicht darauf aus eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Wie gesagt ich nehme das, was kommt.

DUM: Ich habe den Eindruck, dass du wenig Lesungen gibst?

Das hat zwei Gründe: Einerseits habe ich wenig Zeit, da ich die Dissertation, an der ich gerade arbeite bis Ende des Sommers fertig machen möchte und andererseits kann ich mir des öfteren angefragte Gratislesungen nicht leisten. Ich will aber nicht den Eindruck erwecken, dass ich keine Veranstaltungen mag; im Gegenteil; ich freu mich sehr über Einladungen zu Lesungen, Gesprächen, Lesekreisen ...

DUM: Du studierst und schreibst Romane; du hast einen intensiven Alltag. Was machst du gerne, wenn du nicht schreibst?

Als Ausgleich zu meinen Schreibtischtätigkeiten gehe ich sehr viel Schwimmen - 3-4 mal in der Woche. Ich mag das Gefühl, dass sich Länge für Länge immer mehr die Gedanken auflösen, bis man nur noch Körper ist. Außerdem lese ich sehr viel. Die Auswahl hat sich in den letzten zwei Jahren immer stärker an meiner Dissertation als am privaten Geschmack orientiert - hoffentlich ändert sich das jetzt langsam wieder.

DUM: Was hast du studiert und welches Thema bearbeitest du in deiner Dissertation?

Ich habe Lehramt Deutsch und Geschichte an der Uni Wien studiert; die Dissertation schreibe ich über nationalsozialistische Schriftstellerinnen in Österreich; unter anderem über Maria Grengg aus Krems/Stein. Ab September 2016 beginne ich mit dem Unterrichten, darauf freue ich mich schon sehr und das wird mich auch herausfordern. Da höre ich dann auf mit meinem "Sommerjob" bei der "WIJUG Wiener Jugenderholung", den ich seit sechs Jahren ununterbrochen mache. Das ist die Arbeit mit Kindern aus schwierigen Familien, die mich herausfordert und auch an meine Grenzen bringt. Auch da erlebe ich vieles, was ich in meine "Romanfiguren" einbauen kann.

DUM: Bleibt noch Zeit für neue Romane?

Ja natürlich. Ich habe bereits Roman Nr. 3 und 4 in Planung bzw. auf Schmierzetteln notiert. Die Ideen dazu sind zum Teil auf meinen Reisen gekommen - es werden wieder ernste hintergründige Geschichten; es wird um Familienidyllen am Land gehen, es wird um Mütter gehen, und es wird um tragische Ereignisse und Bewältigung des Lebensalltags gehen. Ich überlege auch wieder neue Stilmittel beim Schreiben der Romane, so wie Roman 1 und 2 stilistisch vollkommen unterschiedlich sind. Von der klaren Erzählstruktur bei Kindfrau, bis hin zum protokollhaften Kaleidoskop von Szenen und Stimmen, wo auch Brüche, wie im Leben möglich sind. Es macht mir Spaß mit literarischen Formen zu spielen.

DUM: Darauf freuen wir uns sehr. Du hast vorhin Hongkong erwähnt. Reist du gerne?

Ja, seit dem 20. Lebensjahr reise ich jährlich mit Rucksack und Low Budget in der Welt herum; Syrien, Libanon, Iran, Kuba, USA, Indien und jetzt im Mai 3 Wochen nach Peru.
Und die Liste meiner Reiseziele ist sehr, sehr lang - teilweise im Kopf, teilweise niedergeschrieben -, wo sämtliche Reiseziele der nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, notiert sind. Diese Liste kommt durch Erzählungen von Bekannten, Reiseblogs etc. zustande. Momentan möchte ich neben Peru unbedingt nach: Mexiko, Vietnam und Kambodscha und auch nach Island - allerdings muss ich sagen, dass sich das sehr häufig ändert, je nachdem worüber ich gerade besonders intensiv lese - und noch ganz pragmatisch: billige Flugpreise ... Vor Beginn jeder Reise lese ich jede Menge Bücher über das Land, vor meiner Iranreise habe ich zum Beispiel den Dichter Hafez ausgegraben.

DUM: Du schreibst in den Büchern unter anderem über das Thema Sinn und Leere, worin liegt für dich der Sinn?

Ich glaube nicht, dass ich einen Sinn habe. Das halte ich auch für gefährlich, denn was tun, wenn dieser Sinn wegbricht? Im besten Fall besteht meine Lebensmotivation aus verschiedenen Sinngebungen, die unterschiedlich stark wirken - mein Partner, meine Freunde, meine Freude am Schreiben und Lesen etc.

DUM: Deine Bücherfavoriten derzeit?

Janet Fitch: "Weißer Leander" und "Paint It Black".

DUM: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die nächsten Reisen, die neuen Romane und insbesondere einen feinen Start in dein erstes Unterrichtsjahr.

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