WORTFUNDSTÜCKE AUS FERNER ZEIT UND FREMDEN LÄNDERN

Kathrin Kuna interviewt: Teresa Präauer
Warum Teresa Präauers Romandebüt "Für den Herrscher aus Übersee" heißt und was es mit dem Fliegen und Malen für die Autorin auf sich hat, hat sie Kathrin Kuna im folgenden Interview beantwortet.


DUM: Wie kamen Sie auf diesen sensationellen Titel für Ihren ersten Roman?

Hehe, danke.
Einerseits ist die Literatur für mich ein Setzkasten für Wortfundstücke aus ferner Zeit und fremden Ländern. Ich glaube, so geht es vielen schon als Kind: ein Wort, das man zuerst einmal nicht versteht, zieht einen doch besonders an - die Namen von Medikamenten oder von wissenschaftlichen Theorien vielleicht. Oder mit edlem Gesichtsausdruck "Odem" zu sagen statt "Atem". Beim Wort "Übersee" muss ich einfach schon grinsen. Da steckt so viel Wunsch drin, und auch so viel Weltbild, das nun wieder überholt scheint. Andererseits gefiel mir auch die Vorstellung, dass ich eine Widmung als Titel setze. Wer Lust dazu hat, kann das auch poetologisch lesen. Nicht für die Katz.

DUM: Warum ist das Fliegen ein so zentrales Thema?

Es ergab sich im Laufe der Arbeiten; 2009 erschien meine Vogelkartensammlung "Taubenbriefe" bei der Edition Krill, dann die "Gans im Gegenteil" mit Wolf Haas. Da war mein Flugwesenbestand schon so reich bestückt, dass ich gleich weiter montieren konnte. Die Vögel sind ja in der Literatur immer schon Beobachter von Heimlichkeiten gewesen und Überbringer von Botschaften. Und schließlich ging's mir einfach formal darum, Bilder zu gestalten. Wenn ich von hoch oben hinunterschaue, ist die Welt gebaut wie ein tausendfarbiger Fleckerlteppich, wenn ich nah heranfliege und knapp vorm Aufprall bin, kann ein einzelner Stein, riesengrau bis zur Abblende ins Schwarz, schon das Leben kosten.

DUM: Spielt Fliegen in Ihrem Leben eine Rolle?

Insofern, als ich heute (an einem Tag im Jänner) noch nach Berlin zu einer Lesung fliege und warte, ob das Schneegestöber den Abflug erlaubt. Nicht mehr und nicht weniger. Aber die alten Geschichten von so einzelgängerischen Flugpionieren faszinieren mich doch: in ihrem Großmut und in ihrem Draufgängertum.

DUM: Mich lässt die Szene nicht in Ruhe, in der beschrieben wird, wie die Kinder eine Art Familienbaum zeichnen. Es heißt da zum Beispiel "Dann ziehen wir vom Vater weg Linien zu Großmutter und Großvater, und weil für die Mutter zusätzlich keiner mehr Platz hat auf dem Plakat, ziehen wir ihre Linien zu den goldenen Weihnachtsplaneten hin und zum Pfeil Zweifel." Haben Sie dieses Bild gemalt, um es dann beschreiben zu können?

Ich habs mir vorgestellt in Gedanken. Es ergab so eine innere Logik, dass ich es als "Theorie von Welt und Leben" durchaus für brauchbar halte. Was da, denke ich, miterzählt wird, ist eben auch dieser menschliche Wunsch, etwas ganz und gar darstellen zu können, eine Vollständigkeit zu behaupten. In diesem Aspekt ist für mich die Naturwissenschaft sehr poetisch, traurig und komisch.

DUM: Da vermischen sich doch die Gedanken von Kindern und Erzählerstimme, oder?

Die Perspektiven switchen überhaupt ziemlich im gesamten Text. Ich mag es, etwas mit Inbrunst zu behaupten, ohne viel adjektivisches Beiwerk. Es geht also ums Behaupten, und gleichermaßen um das augenzwinkernde Imitieren eines solchen Tones, der Gesetze formuliert. Wer Held ist und wer Loser, wer erwachsen, wer Kind, diese Zuschreibungen hüpfen umher. Deshalb ist für mich Kindheit auch kein Illusionsraum. Ich finde Kindheit normal bis brutal, Süßes braucht man da ehrlicherweise gar nicht erst mit hineinzulesen. Sonst gibts Prügel, Freunde!

DUM: Wie wichtig ist die Malerei für Sie im Vergleich zum Schreiben?

Es ist für mich dasselbe. Gerade lese ich so einen coolen Interviewband mit David Hockney. Wie er über seine Bilder spricht und also über die Welt: das ist ein großartiger Roman!

DUM: Haben Sie das Cover des Buches selbst mitgestaltet?

Yes. Zwei fremde Kinder mit Socken im Loch.

DUM: Der Prolog zu Ihrem Roman lautet: "Ich bin mit dem Schreiben nicht nachgekommen, da hab ich mich ins Fluggerät gesetzt und bin losgeflogen." Wer sagt das?

Vielleicht sag ich das zu mir, aber dann stolpert schon die "Fliegerin" ins Bild und es kann auch ihr zugeschrieben werden. Es hat etwas mit dem "Zwei-Schritte-auf-einmal-Nehmen" zu tun: Wenn du, wortwörtlich, nicht nachkommst, so flieg los! Ein alter Sportlehrer hat zu uns Schülern gern gesagt: "Wer Angst hat vom Dreimeterbrett zu springen, soll auf dem Zehnmeterbrett beginnen." Das klingt lustig und absurd, aber auch recht brutal als Erziehungsmethode.

DUM: Ihr Roman liest sich wie ein Märchen. Würden Sie dem zustimmen? Wollten Sie ein Märchen erzählen?

"Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen", ja! Insofern stimme ich zu, als das Märchen versucht etwas Elementares allgemeingültig zu formulieren. Es gibt beispielsweise den Archetypus "Zwerg" und seinen Gegenspieler, den "Riesen". Daraus ergeben sich schon zirka siebzehn verschiedene Möglichkeiten für Konflikt oder Freundschaft, ohne, dass ich als Autorin herumpsychologisieren muss.

DUM: Wer würde die Filmmusik schreiben, würde der Roman verfilmt?

Haben Sie einen Vorschlag? Zum Thema vielleicht so viel: jüngst habe ich in einer Rezension gelesen, "Für den Herrscher aus Übersee" sei wie ein Film von Michel Gondry. Das hat mir gefallen!

DUM: Welchen Herrscher aus Übersee würden Sie gerne Mal auf einen Kaffee treffen?

Die allwissende Müllhalde aus den "Fraggles".

DUM: Wussten Sie, dass es am Chiemsee auch ein Übersee gibt?

Ich werde mit dieser Tatsache seit Erscheinen des Romans gerne konfrontiert. Ist doch gut, oder? Ein "Übersee", für das ich nicht mal einen Ozean überfliegen muss. Das ist doch gute Literatur.

DUM: Ja, das ist gute Literatur! Vielen Dank für das Interview!




FÜR DEN HERRSCHER AUS ÜBERSEE

In einem bohnenförmigen Fluggerät, unten drei Räder, hinten ein Propeller, oben ein weißer Schirm, der geschnitten ist wie ein Lindenblütenblatt, sitzt, den Helm über den Kopf gezogen, die Handschuhe über die Finger, ein Tuch um den Mund, die Fliegerin. Vor ihr fliegen, in V-Formation, die Vögel, weiß, grau, mit eingezogenen Patschfüßen und in den Wind gestreckten Schnäbeln.
Unter ihnen ist das Land geteilt in Felder, gelb und braun, dazwischen sind kleine Seen und Flüsse. Bäume, die Früchte tragen, und solche, an denen das Laub schon rot ist. Über allem ist der Himmel weiß und durchzogen von farbigen Streifen, die sich in den Gewässern unten am Land spiegeln. Die Fliegerin fliegt mit den Vögeln, und der Wind bläst ihnen entgegen, und die Sonne brennt ihnen ins Gesicht.
Menschen sind aus ihren Autos gestiegen und winken zum Himmel hinauf. Über einem von schwarzen Spuren durchzogenen Feld sitzt ein riesenhafter heller Fleck, der alles Darunterliegende überdeckt.
Es ist der Daumen des Bruders, der die Postkarte mit der Fliegerin und ihrem Autogramm in seiner Hand hält. Wir betrachten sie jetzt wortlos und kleben sie an die Wand, ohne die beschriftete Rückseite zu beachten.
Der Großvater kommt ins Zimmer, sieht die Karte und fragt, ob wir nicht lesen können. Weil, sagt er, er kann es nämlich, und streckt dabei Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand in die Luft. Fau, ruft er, wie in Sieg, Fau wie in Vogel, und Fau, wie die Vögel fliegen!
Das V ist leicht zu schreiben und baut den Weg zum W. Umgedreht ergibt das V fast ein A, und mit A beginnt aller Anfang. Und mit A beginnen auch die Augen. Die Augen vom Pfau sitzen auf seinen Federn und sehen dort blau, grün, braun und rund aus wie viele O. O, sagen der Bruder und ich mit offenem Mund.
Der Großvater und die Großmutter wohnen in einem Haus auf einem Hügel. In ihrem Garten wohnen viele Vögel, von denen wir schreiben und lesen lernen.
Es ist Sommer, und unsere Eltern sind fort. Sie reisen um die Welt und schicken uns täglich eine Karte. Auf den Vorderseiten dieser Karten skizzieren sie das Panorama des Ortes, an dem sie sich jeweils befinden, auf der Rückseite schreiben sie Anweisungen und Grüße. Wir wissen, wenn die Kartenpanoramen um unser Zimmer im Kreis verlaufen und sich ihre Reihe schließt, kommen die Eltern wieder.
Inzwischen ist genug zu tun. Die Vögel der Großeltern abends heimzuholen und morgens ihre Eier aus den Nestern zu klauben ist meines Bruders und meine Aufgabe.
Es sind Hühner, Rebhühner, ein Pfau, ein Fasan und viele kleinere, Ziervögel genannt. Die Hühner und Rebhühner rupfen tagsüber Gras im Garten und haben für die Nacht einen überdachten Unterschlupf. Die Ziervögel bleiben in einer Voliere. Der Pfau und der Fasan schreiten, wenn die Sonne scheint, die an Haus und Garten grenzenden Felder ab bis dorthin, wo der Wald beginnt und das Grundstück der Großeltern endet. Wenn der Bruder und ich unten im Garten stehen, sehen wir zum Feld hinauf und sehen dort die beiden, den Fasan vorne, den Pfau hinten nach. Manchmal rotieren sie als bunte Kreise ein paar Meter in der Luft überm Feld und stürzen gleich darauf wieder ab. Der Pfau hinten, der Fasan vorne. Am Abend fangen wir die Vögel ein und bringen sie zurück in den Verschlag.

Der Bruder und ich sind zwei. Wir sehen einander ähnlich, obwohl der Bruder jünger ist. Wir haben die gleichen Haare, die gleichen Augen, die gleichen Finger, die gleichen Zehen, und unter den Nägeln sind wir gleich schwarz, wenn wir aus dem Garten kommen und uns an den Küchentisch setzen.
Dann erwartet uns schon der Großvater und erteilt uns Flugstunden mit Teller und Besteck. Er dirigiert unsere Nasen und Arme. Der Bruder und ich reißen die Messer in die Luft und schmeißen die Köpfe zurück. Wir steigen vom Boden auf die Sitzbank und auf den Esstisch. Der Großvater bläst uns als Wind entgegen und ruft die Namen der Himmelsrichtungen. Die Großmutter ruft: Landung!, und setzt mit der Schürze das Signal.
Starten und Landen sind Manöver: Die Vögel sollen mitsteigen und mitsinken, aber nicht verletzt werden von Teilen des Fluggeräts. Die Fliegerin fliegt langsam, hört kaum den Motor, und neigt ihren Körper zu allen Seiten, um den Flug zu steuern. Ein bisschen so, denkt sie da, wie sie die Vögel, als sie noch in ihren Eierschalen hockten, schon in ihren Händen gehalten und gedreht hat.
Die Fliegerin gibt Gas, und die Vögel fliegen nun unter dem Fluggerät in einem Muster, innerhalb dessen sie ihre Plätze wechseln. Dann fliegt die Fliegerin selbst in der Mitte und sieht nah bei sich die Vögel atmen, während diese die Flügel auf und ab bewegen.
Jedem davon hat sie einen Namen gegeben: Rote Beine, Buschige Federn, Glubschende Augen fliegen zwischen und unter den Wolken hindurch.
In den Himmel hinauf fliegen und die Wolken umrunden wollen der Bruder und ich. Nach dem Essen schleichen wir auf den Dachboden und bauen uns zwei Apparaturen aus Papier, Stoff und Draht, die wir uns, jeder eine, über den Oberkörper stülpen und um den Bauch herum festbinden. Wir laufen aus dem Haus und die Wiese hinunter und rudern mit den Armen. Wir rufen, wir fliegen, während wir fallen, bis die Großeltern uns hören.
Der Großvater steht vorm Haus, sieht uns eine Zeitlang zu, schüttelt den Kopf und schreit immer wieder: Das sieht nicht gut aus! Der Bruder und ich beachten ihn nicht. Der Garten liegt hinter uns, jetzt werfen wir uns den Hügel hinunter bis fast zur Straße unten, und der Wind pfeift uns um die Ohren.

Schwerer als Luft?, hören wir jetzt den Großvater aus der Ferne, schwerer als Blei ist das! Er läuft ins Haus, kommt zurück, lädt sein Festtagsgewehr und knallt eine Salve Schwarzpulver in die Luft. Der Bruder und ich packen unsere Apparaturen und trotten schwer beladen ins Haus zurück.
Kein Wort mehr wollen wir mit dem Großvater wechseln. Bis zum Abend ist es still im Haus, bis uns die Großmutter zum Essen ruft. Der Großvater sitzt am Tisch und raucht. Die Großmutter steht am Herd, und aus den Töpfen dampft es heraus. Eine Fliege summt, bis die Großmutter mit der flachen Hand daraufklatscht. Der Großvater brummt, steht auf und geht jetzt in der Küche auf und ab und trommelt seine Schritte in den Boden.
Der Bruder beginnt, zwischen die Schritte hineinzuklatschen. Ich beginne, mit einem Löffel auf die Teller im Abwaschbecken und auf die Töpfe am Herd zu schlagen. Die Großmutter klatscht noch einmal auf die tote Fliege, und noch einmal, und klopft dazwischen aufs Fensterbrett.
Danach wird wieder miteinander gesprochen. Der Großvater umarmt uns, sagt, ich habe genauso begonnen wie ihr. Er öffnet sein Bier mit dem Messer und beginnt:
Zwischen dem einen und dem anderen reichte gerade einmal ein kurzer Frieden, um einen Papierflieger zu fangen im Pausenhof und ihn auseinanderzufalten zum Pilotenschein, Stempel drauf, und, so der Großvater, bevor ich noch erfahren hatte, für wen man einzutreten und gegen wen man sich zu stellen hatte, war schon mein Proviant gepackt. Das Zweifache des Körpergewichts, heißt es bei den Zugvögeln, bei mir waren es sieben Sachen exakt, und ab in Richtung Übersee. Ich bin in den Himmel hinauf geflogen und hab mit dem Zählen der Tage aufgehört. Und es war die Hölle, stürmisch und kalt, und ich träumte bei Nacht, ich sei schon abgeschossen zwischen den Weltmächten. Und wenn ich damals eure Großmutter schon gekannt hätte, hätte ich alles das nur ertragen, wenn ich an sie hätte denken können.
Der Großvater öffnet noch ein Bier, es ist Abend. Die Großmutter zündet am Tisch die Kerze an. Wenn es dunkel ist, sieht man nichts, sagt sie und verlässt die Küche. Unsere Limonadeflaschen leuchten jetzt grün und rot. Der Großvater hält eine Zigarette in die Kerzenflamme, raucht sie bis fast zum Schluss und lässt dann den Bruder und mich je einmal ziehen. Es dreht uns vom Sessel wie zwei Propeller. Am Boden ausgestreckt sehen wir die Sterne. Der Großvater erklärt uns Navigation und Orientierung.
Irgendwo zwischen Himmel und Erde hab ich die Japanerin kennengelernt, sagt der Großvater, und hat dabei eine Kinderstimme. Zuerst habe ich nur ihre Frisur gesehen: einen riesigen Korb aus Haaren, zu Zöpfen geflochten und um den Hinterkopf gedreht, besteckt mit Blumen und Vögeln, so war damals die Mode. Und ich hab sie riechen können, so der Großvater, ich hab die Vögel in ihrer Frisur zwitschern gehört, oder waren das ihr Kleid und ihre Schuhe? Und dann hab ich ihr Kleid vergessen und ihre Haare und die Lippen gesehen, rosa, und kreidig weiß die Haut.
Und sie hat mich zuerst angeschaut mit einem Blick wie: Solche wie dich gibt's wie Kirschblüten im Frühling, so viele, dass man sie nicht zählen wird und dass die Luft davon schon weiß ist und rosa. Dass ich in dieser Zeit ein schöner, großer Mann gewesen bin, ist ihr im Blütenregen zuerst noch gar nicht aufgefallen.

(Leseprobe aus: Teresa Präauer: Für den Herrscher aus Übersee)


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