STANDBY

Kathrin Kuna interviewt: Daniel Wisser
Daniel Wisser war Teilnehmer beim diesjährigen Ingeborg Bachmann Preis. Unlängst ist beim Wiener Klever Verlag sein neuer Roman "Standby" erschienen. Kathrin Kuna hat ihn zum Interview gebeten.

DUM: Ihr Roman "Standby" handelt von der Mittelmäßigkeit, emotionalen Gleichgültigkeit, Verrohung und Abgestumpftheit, die durch die permanente Verfügbarkeit ausgelöst wird. Kann man das so sagen?

Die Mittelmäßigkeit würde ich weglassen oder zumindest hinzufügen, dass es eine scheinbare Mittelmäßigkeit ist. Denn in vielen Menschen, die ökonomisch auf geistlose Berufstätigkeiten angewiesen sind, steckt Unerwartetes: Begabungen, Sehnsüchte, aber eben auch Abgründe und Obsessionen.

DUM: Die Hauptfigur in Ihrem Roman ist ein Mann, der aus Angst sein Leben zusehends einschränkt, sich immer mehr ein Gefängnis baut und seine Emotionen nur mehr auf Standby hält. Auf sprachlicher Ebene verdichtet sich die Schilderung durch die grammatikalische Form der Passivkonstruktion. Wie bedrückend war es diesen Roman zu schreiben?

Der Umgang mit der Sprache war äußerst anregend und lustvoll. Dabei stellt man fest, dass ein Passiv-Satz, wenn man ihn ins Aktiv setzt, natürlich nicht dasselbe bedeutet und umgekehrt. Auf inhaltlicher Ebene spielt Aussichtslosigkeit oder Unfähigkeit des Ausbrechens eine Rolle; das bedingt aber wieder die visionäre Seite: übersinnliche Kräfte und Untergangsszenarien.

DUM: Wie lange haben Sie an dem Roman gearbeitet?

Ungefähr 3 Jahre.

DUM: Sie sind Begründer und Mitglied des Ersten Wiener Heimorgelorchesters. Wie kam es dazu?

Gegründet wurde das EWHO 1994. Wir wollten auf jeden Fall etwas Andersartiges machen. Jedes Mitglied gibt den Gründungsmythos heute verschieden wieder. Einig sind sich aber alle, dass die Feststellung, dass alle eine Heimorgel aus Kindheitstagen besitzen, zur Gründung einer reinen Keyboard-Band geführt hat.

DUM: Wie wichtig ist Ihnen die Verbindung von Musik und Literatur?

Sehr wichtig - das kann man gar nicht fett genug drucken. Das EWHO tritt ja auch in literarischem Rahmen oder im Theater auf. Und mit Liese Lyon und Alexander Fleischmann habe ich Ich zünde nachts Italien an kreiert, einen Abend, der aus Liedern und rezitierten Gedichten besteht.

DUM: Wenn der Roman verfilmt würde, wer sollte idealerweise Regie führen und welche Schauspieler würden Sie sich für die Protagonisten wünschen?

Ich bin mir nicht sicher, ob eine Verfilmung überhaupt möglich ist. D.h. möglich ist sie natürlich; aber ein Film würde den Text sehr schwächen. Wenn die Hauptfigur plötzlich ein bestimmtes Aussehen hat, wenn man darstellen muss, dass er unsichtbar ist oder es eben nicht ist, dann konkretisiert die visuelle Form das, was in der Sprache virtuell gehalten werden kann. Ich denke, die adäquateste Form wäre ein Comic.

DUM: Franz Schuh spricht von einem Massenschicksal, das in Ihrem Roman beschrieben wird. Denken Sie, dass der Leser viel mehr andere, vielleicht eigene Arbeitskollegen, nicht aber sich selbst in Ihrem verstörten Protagonisten wiedererkennen wird? Wollen Sie, dass er sich selbst erkennt?

Ich weiß, dass viele einzelne Situationen wiedererkennen und das soll auch so sein. Das Passiv hilft auch, die Aufmerksamkeit von den Personen wegzulenken. Helden in herkömmlich erzählten Romanen sind letztendlich immer sympathisch, auch wenn sie Massenmörder sind. Ich würde also sagen, dass es um Situationen oder Vorgänge geht und weniger um den Protagonisten.

DUM: Ihr Roman klingt wie ein Einzelschicksal, in der Tat würde ich aber Franz Schuh zustimmen. Ihr Protagonist ist kein literarischer Außenseiter, ich denke er ist der Prototyp Mann der Computergeneration. Wie sehen Sie das?

Auf jeden Fall. Es steckt eine enorme Kraft in diesen Millionen Menschen, die scheinbar inexistent sind, wenn sie stundenlang vor dem Computer arbeiten. Die Gesellschaft versucht natürlich, die negativen Seiten ihrer Arbeitssituation unter den Tisch zu kehren. Wir leben in einer Epoche, die sich in Literatur, Film und Kunst nach Eskapismus sehnt. Aber die Realität wird nicht lange zu ignorieren sein: Krise, Gewalt, Burn-Out - all das wird ja zur Zeit geradezu beschworen!

DUM: Auf Ihrer twitter-Seite haben Sie mit einem kurzen Artikel übers Burn-Out von David Hugendick auf Zeit-online verlinkt. Welchen Tipp haben Sie persönlich gegen das Burn-Out?

Ich habe da keine Tipps und auch keine Erfahrungen. Der genannte Artikel bestärkt mich aber in dem, was Sie oben gesagt haben: Das Massenschicksal gibt dieser Krankheit eine soziale und politische Bedeutung. Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen und ständige Einsatzbereitschaft müssen sinnvoll und dem Arbeitenden zuträglich verwendet werden.

DUM: Was bedeutet für Sie ständige Erreichbarkeit?

Ständige Erreichbarkeit im Sinne der Bereitschaft mancher Berufsgruppen, jederzeit arbeiten zu können, ist in unserer Gesellschaft notwendig, um Menschen helfen zu können und Infrastrukturen, die Wohlstand schaffen, aufrechtzuerhalten. Es muss aber auch an die Belastungen des Einzelnen gedacht werden und daran, wie man ihn schützt, betreut und politisch vertritt.

DUM: Wie war es in Klagenfurt beim Bachmann-Wettbewerb zu lesen?

Das Lesen war eine Freude. Der Wettbewerb mit all seinen Dynamiken, Zwängen, Eitelkeiten und Taktierereien war dann teilweise mühsam. Aber ich bleibe bei dem, was ich davor gesagt habe: Wer nach Klagenfurt geht, muss wissen, worauf er sich einlässt.

DUM: Sie haben Ihren Text über weite Strecken auswendig vorgetragen, was für die Präsentation und die Eindringlichkeit der Textstruktur von großem Vorteil war. Passierte das quasi automatisch oder haben Sie diese Methode bewusst gewählt und trainiert?

Viele haben das so wahrgenommen. Meine Wahrnehmung ist die: Ich habe oft aufgeblickt und über mehrere Sätze nicht mehr ins Manuskript geschaut. Auswendig konnte ich den Text nicht. Aber es stimmt, ich versuche bei einer Lesung Aufmerksamkeit zu schaffen; einfach aus der passiven und aktiven Erfahrung, dass auch Lesungen sehr guter Texte sehr schlecht sein können. Die Lesung war gut vorbereitet und ich wusste, wie ich aussehen würde; mit Ausnahme des unruhigen Strichmusters hinter dem Lesenden im ORF-Studio.

DUM: Warum hinkt ein Vergleich zwischen Ihnen und Thomas Bernhard Ihrer Meinung nach?

"Du bist wie ein Vergleich, denn Du hinkst" - so beginnt ein Song des EWHO. Der Vergleich hinkt, weil es sehr viele Unterschiede zwischen Thomas Bernhard und mir gibt. Sehr viele.



ERSTER TEIL: FREITAG
(Romanauszug aus "Standby")

1

Am Freitag gegen 15:00 werden die ersten Headsets abgenommen, Computer heruntergefahren, Schreibtische aufgeräumt und Kaffeetassen in die Teeküche gebracht. Beim Weggehen wird ihm nicht mehr in die Augen geblickt. Eilig wird die Glastür geöffnet und das Callcenter verlassen. Genau beobachtet er jeden davoneilenden Mitarbeiter und denkt dabei, was für ein hässliches Wort das Wort Teeküche ist. Um 15:32 nimmt Sabine ihr Headset ab. Sie fährt ihren Computer herunter, nimmt den Parka von der Lehne ihres Drehstuhls und schlüpft mit einem kurzen Hochziehen beider Schultern hinein. Der Gedächtnisschaum der Rückenlehne des Bürodrehstuhls formt sich langsam wieder zurück. Kurz blickt Sabine in seine Richtung, mit einem leichten Nicken, als erwarte sie von ihm die Erteilung der Erlaubnis zu gehen. Er wird von Sabine enttäuscht. Er ist von Sabine enttäuscht. Keine Sekunde wendet er die Augen vom Bildschirm ab, sondern starrt beharrlich auf die Eingabemaske seiner Anwendung und wünscht Sabine in dieser Haltung ein schönes Wochenende.

Nachts träumte er, nein, er sah, wie die Menschen einander beraubten und töteten für ein Netz Kartoffeln, eine Konservendose, einen Schluck Wasser. Längst war die Versorgung zusammengebrochen. Es gab kein Telefon, keinen Strom und kein Gas. Die Menschen froren im Winter. Banden regierten die Stadt. Sie plünderten alle Gebäude, in denen sie hofften, Essen oder Brennstoff zu finden, und lieferten sich mit anderen Banden brutale Schlachten. Man gewöhnte sich daran, zu jagen und Menschenfleisch zu essen. Sabine kam in diesem Traum nicht vor. Sabine und er werden sich retten, werden einander retten, bevor die Katastrophe begonnen haben wird.

Sabines steingrauer Parka verschwindet hinter der Glastür des Callcenters. Zu jeder Jahreszeit, auch im Hochsommer bei dreißig Grad, hat Sabine diesen Parka an, und da sie niemals eine Tasche oder einen Rucksack mit sich trägt, vermutet er, dass sich alles, was Sabine besitzt, in den Außen- und Innentaschen dieses Parkas befindet. Sabine und er werden überleben. Aus dem Trümmerhaufen der Zivilisation werden sie beide unbeschadet aufstehen als Gründer einer neuen Welt. Wie wird Sabines Muttermilch schmecken? Bald, wenn die neue Menschheit an Sabines Brüsten großgezogen werden wird, wird auch er davon kosten können. Hundertzwanzig Jahre wird er alt werden. Fast zwei Drittel des Lebens liegen noch vor ihm. So oder ähnlich muss es im Buch Noah stehen, das er nie gelesen hat. Mit sich wird er seine Yottabyte-Festplatte tragen, auf der sich alle Daten der untergegangenen Zivilisation befinden.

Einmal hat er Eva getestet und sie gefragt, was nach Gigabyte und Megabyte komme. Sie wusste, dass die nächste Stufe Terabyte war und sogar, dass die übernächste Petabyte war. Dann aber triumphierte er mit Exa, Zetta und Yotta.
Kurz nach 16:30 wird das Callcenter von der letzten Mitarbeiterin verlassen. Als Teamleiter muss er den Schlussdienst versehen. Er beginnt einen Rundgang, um zu überprüfen, ob die Headsets korrekt in den dafür vorgesehenen Aufhängungen angebracht wurden. Die clean desktop policy ist ohne Ausnahme einzuhalten. Auf jedem Schreibtisch dürfen sich nur der Monitor, das Headset, die Tastatur und die Maus befinden. Persönliche Gegenstände müssen ausnahmslos in den Rollschränken verstaut werden. Der Computer darf nur von jenen Mitarbeitern nicht heruntergefahren werden, die sich im Standby-Dienst befinden. Als Teamleiter kann es ihm schaden, wenn seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz nicht korrekt hinterlassen.

Zu Mittag hat die Frau das erste Mal angerufen und ihn gebeten, Blumen für die Freundin zu kaufen. Am Nachmittag hat sie ihn nochmals daran erinnert. Er findet es unpassend, dass ausgerechnet er, der mit Pflanzen noch weniger anfangen kann als mit Tieren, Blumen kaufen soll. Er kann die meisten Blumentypen gar nicht unterscheiden. Er erkennt eine Rose. Aber Orchideen, Nelken, Hyazinthen oder Lagerströmien kennt er nur dem Namen nach. Die Lagerströmien schätzt er ausschließlich aufgrund ihres Namens. Er kennt einen Blumenladen am Stadtrand, der bis 19:00 geöffnet hat. Um 19:30 wird er auf der Party erwartet. Was für eine Störung durch diese Einladung entstanden ist! Nicht nur muss heute das Wochenende beginnen; er muss auch noch mit der Frau zu diesen sogenannten Freunden gehen. Dabei wurden mit der Frau schöne Freitagabende zu Hause verbracht. Es wurde gegessen, zwei Flaschen Wein wurden getrunken und danach lag man auf der Couch. Er öffnete den BH der Frau und sie forderte ihn auf, ihre Brust zu küssen. Einmal schlug er sie mehrmals mit einem Ledergürtel auf das nackte Gesäß. Sie lag da, protestierte nicht, sondern zog ihn an sich und empfing ihn. Abende in Gesellschaft sind ihm unerträglich. Die Frau kann nicht verstehen, dass ihn Gespräche über Urlaubsreisen, Autos, Wertpapiere, Kinder und Haustiere viel Kraft kosten. Und wird einmal etwas Interessantes besprochen, dann wird das Gespräch niemals vertieft oder fortgesetzt. Man begnügt sich damit, jedes Mal wieder von vorne zu beginnen. Diese Gespräche sind nur Reflexe der Sprechwerkzeuge auf die peinliche Situation des Zusammenseins und können nicht abgestellt werden, wie das Hüsteln im Theater, das ständige Sich-Kratzen eines Menschen, der unter Juckreiz leidet, oder das Zucken und Fluchen eines Tourette-Kranken.

Zwei Stunden kann er eine Party ertragen. Aber für die Frau wird es zu früh sein, um zu gehen und er - dann nur mehr Chauffeur - wird auf sie warten müssen. Er setzt sich an seinen Schreibtisch und blickt auf das Display seines Telefons. Jetzt könnte ein Kunde anrufen und Softwareprobleme melden. Ein Problem, das noch taggleich gelöst werden muss. Er würde die Geschäftsführerin informieren und im Büro bleiben, bis die Qualitätssicherung oder die Entwicklungsabteilung das Problem gelöst hätten. Keine Blumen. Keine Party. Er beginnt den Wochenbericht an die Geschäftsführerin zu verfassen. Was soll über Sabine geschrieben werden? Dass ihre Sätze immer nur aus einem Wort bestehen? Dass sie sich nicht an die firmeninterne Kleiderordnung hält? Dass ihre Brüste wichtig sind für den Fortbestand der Menschheit? Dass sie immer denselben Parka trägt?

In diesem Moment sieht er, wie die Geschäftsführerin mit ihren hochhackigen Schuhen durch den Korridor in Richtung Ausgang trippelt. Obwohl sie acht bis zehn Meter von ihm entfernt und durch zwei Glastüren von ihm getrennt ist, kann er ihr Parfum riechen. Er denkt, dass es unmöglich ist, den Geruch von Miror Miror! auf diese Distanz durch zwei Türen wahrzunehmen. Und doch ist es so. Die Geschäftsführerin erblickt ihn beim Schließen der Tür und lächelt ihm zu. Sie winkt sogar mit der rechten Hand, obwohl sie ihre Handtasche über den rechten Arm gehängt hat und sich nur eingeschränkt bewegen kann. Offensichtlich hat Eva die Firma schon verlassen, denn am Freitag wird sie üblicherweise von der Geschäftsführerin mit dem Auto zum Bahnhof gebracht.

Früher einmal hat er erwogen, Eva eine Rose zu schenken. Ohne bestimmten Anlass. Gerne hätte er dabei zugesehen, wie Eva sich mit einer Dorne in ihre weiße, weiche Haut stach und zu bluten begann. Laut Statistik befinden sich in Evas Körper fünf bis sechs Liter Blut. Früher, bevor sie zur Assistentin der Geschäftsführerin aufgestiegen ist, hat er Eva zum Bahnhof gefahren. Dabei konnte er seinen Blick kaum von ihren Knien, ihren Oberschenkeln abwenden. Eva hat nicht so schöne Oberschenkel wie seine Frau. Evas Oberschenkel sind blass und ein wenig zu feist. So dachte er, wenn er Eva zum Bahnhof fuhr, seine Hand auf den Ganghebel legte und dabei den kleinen Finger zur Seite spreizte, um - wie aus Versehen - Evas Schenkel zu berühren. Und nie ging es sich aus.

Er ist es gewohnt, das Büro als Letzter zu verlassen. Es ist ihm angenehm. Er betrachtet die leeren Schreibtische und sagt sich die Namen der Personen vor, die zurzeit an diesen Plätzen sitzen. Dann erinnert er sich an ihre Vorgänger und Vorvorgänger. Manche haben nur für ein paar Tage im Callcenter gearbeitet, andere zwei, drei oder noch mehr Jahre; das ist aber die Ausnahme. Jedes einzelne Gesicht hat er vor sich, auch wenn es schon einige Jahre her ist; nur Sabines Gesicht kann er sich einfach nicht vorstellen, obwohl sie erst vor knapp einer Stunde das Callcenter verlassen hat. Würde er Sabine auf der Straße begegnen, er könnte sie nur an ihrem Parka erkennen. Ihr Gesicht, das lange schwarze Haar, die großen gezeichneten Augen, die glatte Stirn sind unverkennbar. Und doch kann er sich in diesem Moment kein einziges dieser Details vorstellen. Er weiß, dass Sabine so aussieht, aber er hat sich nur die Beschreibung gemerkt.

In diesem Moment fällt ihm ein, was er dachte, als er an seinem neunten Geburtstag vor dem Spiegel im Badezimmer stand. Er dachte das Wort Himmel. Nichts anderes als das Wort Himmel. Er begann das Wort Himmel laut vor sich herzusagen. Je öfter er das Wort Himmel sagte, desto bedeutungsloser wurde es. Er fragte sich bald, ob das Wort tatsächlich existierte und wie man es richtig schrieb. Das Wort Himmel hatte keine Bedeutung mehr und er musste lachen. Lange war er der Meinung, eine Besonderheit des Wortes Himmel entdeckt zu haben. Erst viel später - sicherlich drei oder vier Jahre dauerte es - entdeckte er, dass kein Wort seine Bedeutung behielt, wenn man es derselben Behandlung unterzog. Und erst jetzt - mehr als dreißig Jahre danach - fragt er sich, warum dieses Phänomen auf Worte beschränkt sein soll?

Er weiß plötzlich, dass er sich auf manche Dinge konzentrieren muss, anstatt den Gedanken an sie unangenehm und lästig zu finden. Er muss dieselben Gedanken wieder und wieder denken, damit sie verschwinden. Ein Lied oder eine Melodie, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt, kann ausschließlich durch diszipliniertes Wiederholen vertrieben werden. Der Himmel war nur der Anfang. Vor Jahren hatte er diese Zeilen notiert:

Der Himmel ist ein Meer aus Luft.
Das Meer ist eine Wüste aus Wasser.
Die Wüste ist ein Himmel aus Sand.
Der Himmel ist eine Wüste aus Luft.
Die Wüste ist ein Meer aus Sand.
Das Meer ist ein Himmel aus Wasser.

Den Zettel, auf dem er diese Zeilen notiert hat, trägt er immer noch in seiner Brieftasche hinter der Kundenkarte für den Drogeriemarkt.
Er hat sich so stark auf Sabine konzentriert, dass sie verschwunden ist. Auch die Frau ist über die Jahre verschwunden. Zuerst hat er ihren Geburtstag vergessen, dann ihren Namen. Jetzt erkennt er sie nur noch daran, dass sie in derselben Wohnung lebt wie er. Früher reichte eine kleine Berührung im Nacken oder auf dem Oberarm und schon erkannte man einander und wusste danach etwas zu erzählen, etwas Beiläufiges, einfach und ohne einander in die Augen zu blicken. Heute sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. Und keiner fragt, wer daran schuld ist. Er ist fest davon überzeugt, dass die Frau nicht überleben kann, wenn er ihr die Wäsche nicht wäscht und aufhängt und wieder im Schrank verstaut; aber so etwas glaubt man eben immer nur.

Er schickt den Wochenbericht an die Geschäftsführerin ab. Der Computer wird nicht heruntergefahren, da er möglicherweise benötigt wird. Wenn er im Standby-Dienst angerufen wird, steuert er die Workstation im Büro über den Laptop zu Hause. Daher muss der Computer immer laufen. Das Headset wird in der Aufhängung angebracht, die Kaffeetasse, aus der den ganzen Tag kein einziger Schluck Wasser getrunken wurde, in die Hand genommen und die Aktentasche unter die Achsel geklemmt.


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