Mit: Clara Felis - Interview * Tino Falke * mieze medusa * Elli Müller * Sophia Marzolff * Verena Mermer * Safiye Can * Ingrid Ratheiser * Andrea Ch. Berger * Anke Lauffer * Christian Klinger * Nicola Quaß * Johannes Witek * Gerhard Benigni * Christine Mack * Daniela Dangl * Christian Schreibmüller * Marcus Fischer * Bernd Remsing * Jonis Hartmann * Susanne Morawietz * Hahnrei Wolf Käfer * Richard Weihs * Der Wortvertreter
Rezensionen: Jaroslav Rudiš - Vom Ende des Punks in Helsinki * Erwin Riess - Herr Groll und das Ende der Wachau * Clara Felis - Auf den Spuren der Lyrik beim Poetry Slam
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DUM-Interview: "Auf den Spuren der Lyrik beim Poetry Slam" mit Clara Felis
Leseproben aus DUM 71:
WILLKOMMENE NARBEN
(Tino Falke)
Weil alle 15-jährigen Mädchen davon träumen, eines Tages davonzufliegen, war Noras erstes Tattoo ein Vogelschwarm. Die Vorlage für ihr zweites Tattoo war ein heimlich aufgenommenes Foto ihres Vaters, auf den Knien, zungentief in ihrer besten Freundin.
Von der bevorstehenden Trennung ihrer Eltern wusste zu diesem Zeitpunkt schon die ganze Schule, doch es war trotzdem überraschend, als Nora zum Sportunterricht in einem bauchfreien Top erschien, auf ihrer Taille ein Beweis der Affäre. Herr Keller, unser Sportlehrer, riet ihr, zur nächsten Stunde etwas zu tragen, was das Bild bedeckt, doch die Mädchen hatten es bereits alle gesehen. Umkleidekabinen und Gemeinschaftsduschen waren keine guten Orte, um etwas geheim zu halten, was man auf der Haut trug.
Niemand sagte etwas, doch immer, wenn Nora sich umzog, versuchten wir, die Bilder auf ihrem Körper zu erkennen. Wochenlang liefen wir um die Wette, um in der Umkleidekabine den Platz neben ihr zu haben und die kleinen Kunstwerke aus der Nähe sehen zu können, und jedes Mal gab es etwas Neues zu entdecken. Wir gaben unser Taschengeld für Zeitschriften und Nagellack aus, Nora sparte alles für weitere Tätowierungen. Auf Grit Winters Pyjama-Party traute sich endlich jemand, sie darauf anzusprechen, und Nora zeigte uns alles.
In ihrem Nacken waren gespitzte rote Lippen zu sehen, darunter die Initialen des ersten Jungen, den sie je geküsst hat. Hinter ihrem linken Ohr tanzten ein paar kleine Noten, der Beginn ihres Lieblingsliedes aus ihrer Kindheit. Auf ihrer Hüfte saß ein kleiner grüner Kobold, in Gedenken an Goblin, ihren Labrador, in dessen Futter eine Glasscherbe geraten war. Nichts davon stand für eine schöne Erinnerung. Noras erster Kuss war furchtbar gewesen, ihr altes Lieblingslied war ihr inzwischen mehr als peinlich. Trotzdem seien sie Teil ihrer Geschichte und hätten mit dafür gesorgt, dass sie ist, wer sie heute ist. Den Hund hatte sie nie leiden können, doch hätte sie ihn nicht damals im Waschkeller gefunden, winselnd, mit blutiger Schnauze, wäre Nora heute ein anderer Mensch.
Wir sollten uns die Tattoos einfach als willkommene Narben vorstellen, sagte sie, während sie sich ihr Nachthemd wieder anzog. Ein Sturz von einem Baum, ein Fahrradunfall, eine Bisswunde - es waren vor allem die unangenehmen Erlebnisse, die dauerhafte Spuren auf der Haut hinterließen. Tattoos boten für die meisten Menschen ein Gegengewicht. Pia Lehmanns Bruder hatte sich den Namen seiner Freundin auf die Brust tätowieren lassen, Herr Keller trug das Gesicht seiner kleinen Tochter auf der Wade, Frau Neubach aus der Bibliothek hatte ein Zitat aus "Herr der Ringe" auf dem Arm. Religiöse Symbole beschwören Schutzheilige und halten das Böse fern. Bunte Comicfiguren zeigen, dass es auch in schweren Zeiten Gründe gibt, fröhlich zu sein. Doch Nora hielt das für Selbstbetrug.
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PLÖTZLICH SOMMERSPROSSEN
(Safiye Can)
Diese Sommersprossen, sage ich
um die Wangenknochen
waren vorher nicht da, drücke
ich die Hand an die Brust, auch
als Kleinkind nicht, nein
wirklich.
Das, sagt die blöde Kuh
ganz gelassen
nenne man in der Arztsprache
Altersflecken.
DER SPAZIERGÄNGER
(Christian Klinger)
Es war ein Bild aus vergangenen Zeiten, und ich dachte es vom Dunkel des Vergessens ausgelöscht, dabei wegradiert, so dass das Bild zwar verschwunden bleibt, jedoch das Schemen einer Zeichnung noch auf dem Papier haftet.
Wer heute durch den Burggarten geht, schon der Eingang von zwei Livrierten bewacht, die den Touristen Karten für Konzerte von fraglicher Qualität aufschwatzen wollen und wie Hofbüttel Maria Theresias, die nicht unweit fett und mit finsterem Blick auf ihrem Metallsockel thront, gewandet sind, denkt nicht an die Zeit zurück, als hier der Haschischdampf über die Wiesen kroch. Die Flower-Power hatte in Wien keine Power, vielleicht, weil sie zehn Jahre später einsetzte als anderswo (wenn überhaupt). Legendär dennoch die Ansammlungen - etwa um Nina Hagen - die wenigstens ein wenig Berliner Flair in die, Ende der Neunzehnsiebziger erstickend beklemmende Luft Wiens brachte. Man saß auf der Grünfläche hinter dem Burgtrakt, in dem das Museum für Völkerkunde untergebracht ist, was für sich allein betrachtet schon mehr als eine bloße Verwaltungsübertretung war. Denn der Rasen war nur zum Anschauen, nicht zum Sitzen da, in einer Zeit, als es sozialadäquat war, Frauen und Kinder zu schlagen, Nazilieder in aller Öffentlichkeit anzustimmen oder besoffen Auto zu fahren. Das alles war vielleicht auch nicht immer gern gesehen, aber doch geduldet. Nicht gern gesehen und schon gar nicht geduldet hingegen war es, die Haare lang, mit bunten Tüchern gebunden zu haben, indische Shirts zu tragen und in öffentlichen Parks herum zu lungern. Die Perlustrierung dieser subversiven Elemente durch ausgewiesene Vertreter der Staatsmacht gehörte also zu einem täglich wiederkehrenden Ablauf, ein Ritual also, das letztlich zu einer Institutionalisierung dessen wurde, was man in Insiderkreisen die "Burggarten-Szene" nannte.
So also war ich verwundert, nicht, dass ich einige Leute auf dem Rasen sah, denn das gehört nun zum normalen Stadtbild, egal ob Votivpark, Stadtpark oder Türkenschanzpark, nein, dass ich eine Gruppe Hippies ausmachte, die Haare lang, die Kleider bunt, weit und offen, die einen Joint kreisen ließen und dabei IHN sah: Unseren ehemaligen schönen Finanzminister. ER hatte die Haare ja immer schon länger (für einen Politiker eigentlich zu lange - auch das ein Klischee) getragen, doch jetzt hatte er sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er saß neben dem Burschen an der Gitarre und wippte seinen Oberkörper im Takt zu dessen Weisen, während er den Rauch des Marihuanas inhalierte.
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LIEBE JUCKT
(Daniela Dangl)
Zum ersten Mal bemerkte sie diese scampiroten Pusteln an ihrem Dekolleté, als sie ihre Tochter am Bauch liegen hatte. Das verklebte Köpfchen hob sich im Rhythmus ihres Atems zwischen ihren Brüsten, der verknitterte Rest lag auf dem krankenhausgrünen Hemd, welches ihr die Hebamme geraten hatte, andersrum anzuziehen. Dass sie gerade am Präsentierteller lag und vier Famulanten, der Oberarzt, zwei Schwesternschülerinnen und ihre beste Freundin ihre braunen Brustwarzen sehen konnten, war ihr egal. Sie hatte viel tiefere Einblicke geboten. Sie hatte ein Baby geboren.
Die Bläschen füllten sich, nässten und juckten. Wie die Pest. Wenn es nicht so unpraktisch gewesen wäre, hätte sich Ella auch Socken über ihre Hände gestülpt. Bei ihrer Tochter half das erstaunlich gut, damit sie sich nicht ständig mit den scharfen Baby-Fingernägeln im Gesicht zerkratzte. Über Ellas Brust spannte sich - dazwischen kleine eitergelbe Krater - ein Netz aus getrocknetem Schorf. Kaum war er hart, blieb er im nächsten Kratzanfall an ihren Fingern hängen, blutig gerissen. Ella trug nur noch weite schwarze Shirts. Mutterpragmatismus. Für Hannah musste sie nicht verführerisch wirken.
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