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SEHNSUCHTSVERSTÄRKER
ODER
GEDICHTE ALS ALLTAGSFLUCHTWEG

Markus Köhle interviewt: Raoul Eisele
Es ist Mai in Wien und überall, doch die Wonnen sind fern. Die Weltnachrichten sind zu düster, um einfach darüber hinweg zu gehen. Es braucht aber auch Auszeiten. Statt dem Morgenjournal zu lauschen, mal die Nase in einen Gedichtband zu stecken, hilft.
Raoul Eisele ist Mit-Veranstalter einer Lesereihe, Mit-Herausgeber der neuen Literaturzeitschrift "process*in" und neulich ist sein zweiter Gedichtband "Einmal hatten wir Schwarze Löcher gezählt" herausgekommen, Grund genug für DUM, um über mehrere Tage hinweg ein ausführliches E-Mail-Interview zu führen.



DUM: Ist DUM in irgendeiner Form mitverantwortlich für deine breiten, literarischen Aktivitäten?

Raoul Eisele: Das DUM ist mit Sicherheit mitverantwortlich für so manchen Verlauf in meinem literarischen Schaffen, ebenso wie das Café Anno, denn wenn ich mich recht erinnere, habe ich das Café erst so richtig kennengelernt, als ich erstmals durch euch dort lesen durfte und somit hat es ganz sicher vieles geebnet, was ohne euch nicht passiert wäre - nehmen wir nur die Lesereihe Mondmeer & Marguérite her, die erst mit dem Kennenlernen von Martin Peichl entstehen konnte und auch hier glaube ich, dass sich Martin und ich bei einer DUM-Präsentation erstmals über den Weg gelaufen sind. Auch mein Schreiben hat ja mit jeder Veröffentlichung einen Entwicklungsschritt gemacht und mir selbst Sicherheit gegeben, dran zu bleiben.

Das ist schön, denn Vernetzung im Analogen ist uns sehr wichtig. Was sind eure Absichten und Ziele bei der Lesereihe Mondmeer & Marguérite und wie seid ihr durch die zwei schwierigen letzten Jahre gekommen?

Mondmeer & Marguérite hat sich ausgehend von Martins Lesereihe "In einer komplizierten Beziehung mit Österreich" entwickelt, zu einer Zeit, die eigentlich fast schon in die Pandemie fiel, denn wir hatten nur zwei Veranstaltungen, die sich nicht mit dem Thema herumschlagen mussten. Glücklicherweise konnten wir aber mit den immer wiederkehrenden Öffnungsschritten (und den teils fragwürdigen politischen Entscheidungen) immerhin fünf von sechs Veranstaltungen im Jahr 2020 durchbringen und haben nur eine ins Jahr 2021 verschieben müssen. Seither gab es dann noch vier weitere Veranstaltungen, die sich auf das Jahr 2021 und 2022 verteilten. Ganz einfach wars nicht, aber wir haben unser Bestes versucht und hoffentlich auch immer bieten können. Denn am wichtigsten für uns ist der Text und das Wohl der Autor*innen - Raum zu schaffen, wo zugehört werden kann und jenen eine Bühne zu geben, die noch am Anfang stehen und sie mit Autor*innen zusammenzubringen, die bereits etablierter sind - also recht ähnlich wie bei euch: Vernetzung, Raum für (experimentelle) Texte und Formen (Performances, szenische Lesungen) und unser Fokus auf Lyrik.

Dein aktueller Lyrikband ist bei Schiler & Mücke in Berlin erschienen. Wie kam es dazu?

Über eine Empfehlung. Einer der Verlagsautor*innen ist José F. A. Oliver, welcher mich an Hans Schiler und Tim Mücke empfohlen hat. So entstand der Kontakt und im Weiteren das Buch.

José F. A. Oliver bezeichnet im Grußwort am Ende deines Buches die Poesie als kontinuierlichen Dialog ins Eigene und zitiert eine Zeile von dir: "und du denkst in Gedichten deinen Alltag mit". Wie sehr bestimmt die Poesie deinen Alltag und was ist für dich ein poetischer Lebensentwurf?

Ich hatte in erste Linie die Kleinigkeiten im Kopf, die einem im Alltag oft verloren gehen und ich versuche, um die Poesie auch dort zu finden, wenigstens kurze Momente zuzulassen, in denen man sich auf die schönen Seiten des Lebens und der Welt konzentrieren kann - vielleicht passt da ja ein Zitat von Lindgren: "Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen."

Nicht, dass ich glaube, dass es wirklich noch so ganz in unsere Zeit passt, aber übersetzt man es, dann geht es genau darum, dass man sich Zeit nimmt und sei es eben nur dafür, aus dem Fenster zu schauen und auf Wien zu blicken, einfach mal ein Zuhören zuzulassen, was sich vor einem abspielt und wie sich der Sound der Stadt mit dem der Vögel vermischt. Poesie kann man im Grunde überall finden, sei diese auf eine Häuserwand geschmiert oder eben im Duft der Jahreszeiten, im Zu- oder Anlächeln, in einer Umarmung oder eben einem Wort, das man gesagt bekommt, etwas, das inspiriert - ein einfaches und vielleicht auch nur kurzzeitiges Entschleunigen und ein bewussteres Wahrnehmen der Umgebung, in der man gerade ist. Ich schaffe es bei Weitem auch nicht immer, mir meine Hektik zu nehmen, aber wenn es gelingt, wie gerade eben, wo ich hier sitze und dem Pollenflug zusehe, dann steckt darin schon Poesie.

Ich hake natürlich bei der Poesie im Wort ein und nach und mir ist aufgefallen, dass das erste Gedicht "unter Teppichböden abertausendweit" in deinem Buch mit "und ich weiß kein Wort" anhebt. Ist Sprache eine Zumutung oder unzulänglich? Empfindest du Gemaltes ausdrucksstärker als Versprachlichtes?

Ich glaube nicht, dass Sprache unzulänglich ist - bei mir ist es eher dem Gedächtnis und der Erinnerung geschuldet und dem Verschwinden von Wörtern im Kopf. Das ganze Buch dreht sich ja stark um das Thema Vergessen und im Kleinen auch um Alzheimer, um eine Erfahrung, die ich bei einem mir lieben Menschen erleben musste: die für mich benannten schwarzen Löcher im Kopf. Und wahrscheinlich kommt daher auch der Gedanke ans Bild und an die Fotografie, die eben schneller mal ein Gefühl auszulösen vermag oder eben eine Erinnerung zurückbringen kann, sodass ich das Bild oder die Verbildlichung manchmal als präsenter empfinde. Gleich dem Körpergedächtnis, wenn ich schreibe: "auch Hände haben ein Gedächtnis". Sprache geht jedenfalls mir manchmal verloren und es fehlen die Wörter, um etwas zu sagen, zu beschreiben oder greifbar zu machen und greifbar hier wortwörtlich, denn manchmal kommt man eben an gewisse Worte nicht mehr ran, kann sie nicht mehr greifen, abgreifen, ertasten oder fühlen.

Sind Sinneseindrücke Anker im Ozean der Erinnerung? Und kann Tanz für unser Körpergedächtnis ein Gedicht sein?

Sinneseindrücke helfen bestimmt Erinnerungen aufrecht zu erhalten, denn jedes Mal, wenn das menschliche Gehirn eine Information verarbeitet, entsteht eine Art Verknüpfung in unserem Gehirn, ein neuronales Netz oder eben ein Strang, welcher immer weiter und dichter gesponnen wird. Kappen diese Seile, fällt wohl auch unser Anker in die Unendlichkeit des Meeres. Irgendwo ist dieser aber sicher noch vorhanden, hoffe ich jedenfalls - man muss nur suchen. Vielleicht auch in einer Tanzbewegung oder beim Ab-Schmecken, Tasten, Riechen, Hören oder Lesen.

Ich stieß erst vor kurzem auf Butō und damit auch auf den Ausdruckstanz - selbst, wenn ich mich darin zu wenig auskenne, aus der bisherigen Erfahrung würde ich sagen, dass darin viel Poetisches steckt und Erfahrungen/Erinnerungen er- und verarbeitet werden. Das alles stellt für mich auch wiederum einen Bezug zum Expressionismus und zur Avantgarde her - haben sich doch zu dieser Zeit viele Künste überschnitten und versucht voneinander zu lernen, etwas, das wir auch heute wieder anstreben sollten - weg vom Vorgeformten hin zum Transdisziplinären. Denn alle Arten der Kunst haben sich doch irgendwo mitbeeinflusst und etwas geschaffen, das auch in unserem kollektiven Gedächtnis hängen geblieben ist und uns noch heute prägt oder prägen kann. Daher ja, für unser Körpergedächtnis kann auch ein Tanz Gedicht sein.

Sind zukünftig transmediale Prozessabbildungen auch in der Literaturzeitschrift "process*in" (deren Mit-Herausgeber du bist) geplant bzw. was habt ihr (wer seid ihr) vor?

Das process*in Magazin ist ein Projekt, das von Simoné Goldschmidt-Lechner und mir 2021 ins Leben gerufen wurde. Wir wollten der Arbeit, die ein*e jede*r Autor*in leistet, mehr Raum geben und haben uns daher für das literarisch Unfertige entschieden, haben versucht, den Weg hin zum "Fertigen" abzubilden und Notizen, Recherchematerialien, unterschiedliche Versionen eines Textes in einem Heft zu versammeln. Von Beginn an mit dabei sind auch die Autorinnen Armela Madreiter und Sarina Tharayil und unser Grafiker Martin Johannsen. Spannend dabei ist, dass wir in 3 Ländern verteilt sitzen und kurzzeitig auch in 4 Städten (Hamburg, Basel, Salzburg und Wien) verteilt waren. Seit Armela aber wieder in Wien ist, bleibt es momentan bei Basel / Hamburg / Wien, jedoch ist unsere Redaktion für die 2. Ausgabe um eine Redakteurin gewachsen und zwar Marlene Engelhorn, denn uns war und ist es wichtig, immer auch neue Blickwinkel bei der Redaktionsarbeit zu bekommen und nicht irgendwann blind zu sein für die immer gleiche Art von Text, die uns ganz persönlich anspricht.

Der Prozess steht also auch ganz bei uns in der Redaktion immer im Fokus, den wir auch für alle abbilden, wenn wir z. B. unser Editorial ebenfalls mit den Kommentaren aller im Heft abdrucken. Wir wollen Transparenz und Offenheit zeigen und so ist sicher auch Transmedialität eine Form, die wir für den weiteren Weg suchen. Immerhin gab es nun in der 2. Ausgabe ein kleines Sonderheft, das von einer Malerin gestaltet wurde und zwischen Text, Bild und Collage agiert, auch Fotografien finden sich in der aktuellen Ausgabe und für die Lesung in Hamburg am 15. Mai wird auch eine Lecture Performance von Pia Schmikl angedacht. Das Spiel mit den Sparten ist also immerhin mal angestoßen, ob wir auch mal Tanz bei einer unserer Lesungen haben werden, wird sich aber noch zeigen ;)

Transparenz und Offenheit - das ist schön, das hat Österreich bitter notwendig. Ich wünsche alles Gute mit allen Projekten und freue mich auf die erste Butō-Poetry-Performance.



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