Anaïs Meier ist eine Entdeckung. Letztes Jahr erschien bei mikrotext ihr erster Erzählband mit dem schönen Titel "Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken", mittlerweile ist ihr erster Roman "Mit einem Fuß draußen" (Voland & Quist 2021) erschienen. Das Cover ist außergewöhnlich grün, der Text außergewöhnlich anders. Dass eine Ente eine tragende Rolle spielt, ist schön, dass die Hauptrolle mit einem schrägen Sonderling (Gerhard) besetzt ist, macht schon mal neugierig. Dass es um einen Fall und ein gemeinsames Wiederaufstehen geht, klingt ganz schön biblisch (oder nach Wittgenstein, je nach Konditionierung), was es nicht ist, aber gewichtig, gewichtig ist die Geschichte schon.
Ein Fuß im Schuh, im See, des Parks, dessen Wächter sich Gerhard schimpft (bessere Beistrichsetzungsvorschläge nehme ich gerne an J). Das ist natürlich ein Fall, da kann aus Gerhard, dem unbeachteten Arbeitslosen, Gerhard, der Kommissär im Rampenlicht werden. Der Fuß will halt auch gefunden werden. Denn auf Fußjagd gehen auch andere. Das Sagen am See haben die fiesen AGSler (Anglerverein) mit ihren lächerlichen Gummihosen und ihren Bierdosen, allen voran der Krückenpatrick. Widerwertige Gesellen allesamt. Gerhard ist anders. In jungen Jahren Bildungsreisender, jetzt weitgehend autarker, selbsternannter Parkbeobachter und Naturversteher.
Den Fuß, den braucht er
Er ist der, der mit den Enten spricht und den Morgen mit dem Flamingo begrüßt. Er braucht nicht viel, aber den Fuß, den braucht er. Der Fall, der muss seiner werden. Stocken die Ermittlungen, fällt er einfach selbst und verlagert sein Habitat vom Park in die Bahnhofs- und Einkaufszentrumsgegend, wechselt von selbst gepflückten Salbeitee zu Denner-Whiskey. Klar, da klafft eine Lücke im Lebenslauf, klar, da gibt es Traumata und Defizite. Aber Unhold ist dieser tragikomische Held keiner. Er ist einer, der an der Ungerechtigkeit der Welt leidet, der im Leben (für seine Begriffe) zu kurz gekommen ist. Der vom Zeitungsverleger, -schreiber, -austräger zum Bastler und Sammler wurde, der auf das Verpflegungsgeld der Stadt angewiesen ist. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Da mögen Adler, Enten, Hunde sterben und der Glaube an Gefühle ebenso, aber die Liebe, die Liebe ist halt eine Himmelsmacht.
Es ist die Erzählhaltung, der Blick durch die Figur auf seine und unsere Welt, der dieses Buch ganz besonders macht. Ein wunderlicher Zausel mit einem Fuß am Abgrund, der es verlernt hat, zu lieben und zu vertrauen. Der hinter allem gegen ihn Gerichtetes vermutet. Der so ganz anders tickt. Ja, nicht normal, aber auch nicht böse, nur ungewöhnlich verstörend ist. Dabei ist er oft doch bloß pragmatisch oder unerwartet direkt. Freilich könnte man auch sozial gestört sagen. Aber das ist Definitionssache. Gerhard ist weltfremd, die Welt ist ihm fremd geworden. Er blieb sich treu, sagt er sich zumindest selbst.
Das Böse ist die Schmier (Polizei), das Blöde sind die "Mehrbesser Stangentrinker" im Wok (Erlebnisgastronomie). Gerhard ist so bewusst anders, dass es weh tut, weh tun muss. Aber er schafft es schließlich nicht nur sich zu retten, sondern auch wen für sich zu gewinnen, der / die keine Ente ist und das ist einfach nur schön und lässt uns Lesende freudig seufzend zurück. Seufzend und mehr davon wünschend. Ja, "Mit einem Fuß draußen" ist auch eine schmerzlich schöne Liebesgeschichte vom Zwischenfall Gerhards und dem gemeinsamen Wiederaufstehen mit Rita.
ANAïS Meier. MIT EINEM FUSS DRAUSSEN. Voland & Quist. 2021. ISBN 978-3-86391-296-3