Ingeborg Horns Erzählung ist keine Liebesgeschichte, wie der Untertitel des Buches verspricht. Es ist eine Liebeskummergeschichte. Es muss einem Verliebten unmöglich sein diese Erzählung zu lesen. Für jemanden, der verliebt ist, muss es sich anfühlen wie ein Film über eine Flugzeugkatastrophe während eines Transatlantikfluges. Natürlich ist man sich während jedes Fluges der Gefahr bewusst, doch kann man den Flug selten genießen, wenn man ständig an den möglichen Absturz denkt. Was will ich damit sagen? Lesen Sie dieses Buch nur, wenn weit und breit kein Höhenflug ansteht bzw. ihre Wunden vom letzten Katastrophenflug mit Notlandung und gegebenenfalls Aufprall bereits verheilt sind.
Die Melancholie, Trauer und Stärke der Liebe manifestieren sich in diesem Text in Naturschilderungen. Das erzählende Ich fühlt sich mit der Natur verbunden, den Pflanzen nahe, doch mit sich nicht vollkommen und ganz, denn es leidet unter der Abwesenheit seiner zweiten Hälfte. Wie in Aristophanes Erzählung von den von Zeus bestraften und in zwei Hälften zerschlagenen Zwitterwesen schleicht auch hier eine Hälfte herum und heult. Mit nur einem Kopf und einem gebrochenen Herzen jagt es den Ereignissen hinterher und lässt Vergangenes revuepassieren, um es irgendwann qualvoll unter schwerem Seufzen verarbeiten zu können.
Für unverheilte Wunden
Vielleicht sollte ich mich korrigieren. Sie können dieses Buch eigentlich nur zu Ende lesen, wenn die Wunden vom letzten Aufprall noch nicht ganz verheilt sind. Es ist ein Buch um zu heilen, nicht um zu verstehen oder zu erfahren. Eventuell lässt es Sie heulen und so Aussöhnung erreichen. Gegebenenfalls lässt es sie aber auch kotzen. Ein gewisser Zynismus stellt sich während des Lesens vermutlich als Selbstschutz ein. Man will nicht zurück in diese Litanei aus Fragen, Gewissensbissen, nie sich realisierenden Zukunftsträumen, denen sich die erzählende Stimme hier aussetzt. Jeder, der sich seiner romantischen Liebesfähigkeit bewusst ist, wird genau verstehen, wovon diese Stimme hier erzählt. Umso mehr wird man diese Stimme in sich selbst ruhigstellen wollen, wenn sie nicht in hörende, andere Ohren flüstern kann.
Manchmal glaubt man tatsächlich, eine zweite Stimme in Ingeborg Horns Text zu hören. Doch sie ist nie klar und deutlich zu hören, respektive zu lesen. Sie ist eine Illusion der eigentlichen Erzählerstimme, die im Verlauf der Erzählung zunehmend kraftloser und lamentierender klingt. Die kontinuierliche Steigerung gipfelt in widersprüchlichen, fast schon lächerlichen Aussagen gegen Ende des Romans. So liest man innerhalb von wenigen Seiten drei verschiedene Feststellungen:
1. "Nichts macht so unfehlbar einsam wie die Lüge."
2. "Nichts macht derart zuverlässig einsam wie das Wünschen."
3. "Nichts macht so unendlich einsam wie Entgrenzung."
Ich würde der Aussage zustimmen, dass Lügen unfehlbar einsam macht, ebenso Entgrenzung. Möglicherweise macht auch Wünschen einsam in manchen Fällen. Vor allem aber macht es blind nur der eigenen Stimme zuzuhören und sich in ihrer Absolutheit zu verlieren. In Beziehungen, in allen, nicht nur in Liebesbeziehungen ist die Relation zu anderen bedeutend. Sich selbst in Beziehung zu anderen zu setzen und so zu erleben, das ist die Herausforderung, die Kunst, der Spaß, der Genuss und das Geschenk, das wir als menschliche Wesen bekommen haben und seit Jahrtausenden zu meistern versuchen. Wo ist also die zweite Stimme, die der Untertitel intendiert? Eine wahre zweite Stimme, nicht nur die zwei Stimmen in einer Person?
Manchmal meint "wir" im Text die beiden Liebenden, deren vergangene Beziehung hier Thema ist. Oft kann "wir" aber auch als pars pro toto für uns alle, für die Gesellschaft gelesen werden. Die Erzählerstimme wirkt am Ende gänzlich verwischt, der Identitätsverlust wird zelebriert, dieses ohnehin schon vage Ich kann allein, losgelöst von seiner zweiten Hälfte nicht existieren und verschwimmt mit der Natur. Ob es sich um komplette Selbstaufgabe oder Wiedergeburt handelt, bleibt des Lesers Entscheidung, ebenso ob man dieses Buch als Literatur oder als Selbsthilfelektüre verstehen will.
INGEBORG HORN. ZWEI STIMMEN. Droschl Verlag. 2011. ISBN 978-3-85420-786-3