"Der Erzähler trifft auf Gaustine, einen Flaneur, der durch die Zeit reist. In Zürich eröffnet Gaustine eine »Klinik für die Vergangenheit«, eine Einrichtung, die Alzheimer-Kranken eine inspirierende Behandlung anbietet: Jedes Stockwerk ist einem bestimmten Jahrzehnt nachempfunden. Patienten können dort Trost finden in ihren verblassenden Erinnerungen. Aber auf einmal interessieren sich auch immer mehr gesunde Menschen dafür, in die Klinik aufgenommen zu werden, in der Hoffnung, den Schrecken der Gegenwart zu entkommen. Und schließlich sind es sogar ganze Länder, die Gaustines Idee von den Vergangenheitsräumen folgen werden, und in frühere Zeiten zurückkehren wollen ..."
Soweit die Inhaltsangabe vom Verlag.
Ich habe mir diesmal schwer getan mit dem "Lesen" ...; ganz Europa stürzte über mich ein, beginnend mit der Vergangenheit, die Gegenwart belastet uns selbst und über die Zukunft wage ich gar keinen Gedanken auszubreiten.
Die Originalausgabe wurde 2020 in Plovdiv veröffentlicht.
Georgi Gospodinov schont uns nicht - zuerst ein Hoffnungsschimmer mit der Idee der Erinnerungskliniken. Doch dann geht's weiter, die persönlichen Erinnerungsfetzen, die europäischen nationalen Verknüpfungen und die Aussichtslosigkeit, die uns das Jetzt vorzimmert.
"Der Roman kommt im Notfall mit eingeschaltenem Blaulicht und Sirene daher", diesmal ist Gaustin ohne "e" gehalten - aus der Zitatenbox auf den ersten Seiten, wo die lesende Aufmerksamkeit noch groß ist, und die Wörter doppelt wirken.
"Meiner Mutter und meinem Vater, die immer noch die ewigen Erdbeerfelder der Kindheit jäten".
Was für ein schöner Beginn; das Blaulicht ermahnt uns aufmerksam zu sein und dann die Erdbeeren. Er scheint sanft zu sein, der Einstieg, denn Erdbeeren werden mit Genuss und Teilhabe und kindheitstauglichen Momenten des Seins gleichgestellt.
Täuschen wir uns nicht.
Hoffnung, die keine ist
Der Autor verführt die Leserschaft in die Abgründe des Daseins ...
In die Erinnerungen, die oftmals ähnlich sind und so oft in einer Traurigkeit über das Passierte enden.
Die Zeitzuflucht als Hoffnung, die keine ist.
Die sich entwickelt zu einer europäischen Menschheitssicht, die wir nun "Täglich" als Spiegel vorgehalten bekommen - Ukraine-Krieg, Klimawandel, Armut im reichen Europa, ...
"Es kommt eine Zeit, in der immer mehr von ihnen sich in ihrer Höhle verstecken werden wollen, zurückkehren werden wollen. Und nicht, weil es ihnen so gut geht, übrigens. Nenn sie, wenn du willst, Zeitschutzräume."
Und dann lässt der Autor das Schicksal seinen Lauf nehmen - "Erbauen wir eine ganze Stadt in der Zeit".
In die "geschützte Zeit" zu flüchten aus der Realität.
"Ist diese Zugkraft der Vergangenheit letztlich ein Versuch, zu jenem heilen Ort zu gelangen, wie weit er auch zurückliegen mag, wo die Dinge noch ganz sind, es nach Gras riecht ... "
Wo ...
"Ein Mann macht sich auf, sich selbst einzusammeln, indem er an die Orte zurückkehrt, wo er Kind gewesen ist und aufgewachsen ist."
Dann kommt die "Allgemein-Heit" dazu und das zu Beginn "nette" Zurückreisen wendet sich in die Realität des Heute ab.
Referenden über die Zeitauswüchse werden abgehalten und Reenactments veranstaltet.
"Und als sie sich umdrehten, sahen sie ihre Zukunft ..."
Verstreut auf ganz Europa - einzelne Länder herausgepickt ...
Falco und Nena
Ein kleiner Kritikhinweis sei mir erlaubt: Falco firmiert unter Deutschland ... bei einem Referendum in D neben Nena und der deutschen Fußballnationalmannschaft aus den Achtzigern (naja da meinte der Autor wohl die Siebziger; D wurde 1974 Fußballweltmeister). Natürlich verschwimmen die Jahrzehnte. Aber Falco "gehört" zu Österreich! Ojemine - suche wie ein Huhn ein Korn, welches nicht schmeckt.
Zum Ende hin finden wir uns wieder am 1. September 1939 als der 2. Weltkrieg begann - in einem Reenactment.
Das Jetzt ist keine gestellte Szenerie - das ist Echt und nicht absehbar.
Und wir mitten drin; so fühlte ich mich auch beim Lesen.
Versöhnliches im Nachwort?
"Und ich danke allen, die an irgendeinem Nachmittag in der Zeitzuflucht dieses Buches sitzen werden".
Und ich sitze auf meinem Balkon und betrachte den Weltausschnitt vor mir - selbst den beherrsche ich nicht.
Gut so.
GEORGI GOSPODINOV. ZEITZUFLUCHT. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Aufbau Verlag. 2022. ISBN 978-3-351-03889-2