WÄNDE AUS PAPIER
AUTOR: HANNO MILLESI
REZENSION: KATHRIN KUNA
Es ist schwer zu sagen, ob die einzelnen Kapitel dieses Buches mit Titeln wie Experiment, Maßnahmen oder Wände aus Papier eine zusammenhängende Geschichte eines einzelnen Protagonisten bilden oder einzelne Erzählungen unterschiedlicher Protagonisten mit ähnlichen Erfahrungen sind. In einigen Erzählungen ist es die Perspektive eines kindlichen Ich-Erzählers, immer handelt es sich um ein Kind, das versucht die Handlungen seiner Eltern, die für die Welt der Erwachsenen im Allgemeinen stehen, zu verstehen und bei diesem Versuch scheitert. Scheitern muss. Denn die Erwachsenen werden als gefühlskalte, ignorante und bis in jede einzelne Pore beherrschte und herrschende Wesen geschildert. So leicht sich die kindlichen Erzählungen anhören wollen, so beklemmend sind die Szenarien, die sie beschreiben.
Sehr feinfühlig, reduziert und dennoch zugleich nuancenreich ist die Sprache des Autors. Es werden kaum Urteile gefällt, vielmehr wird die Tendenz erkennbar, dass Kinder ihre Eltern trotz der übelsten Taten und Untaten, bedingungslos lieben. Ja, dass diese Liebe bis zur Selbstzerstörung und Verleugnung durchgezogen werden kann. Bevor man sich die Ignoranz der eigenen Eltern eingesteht und die fehlende Liebe andernorts einfordert, beginnt man stattdessen ebenfalls sich selbst zu hassen. Bevor man lernt die Teile seiner Eltern, die man (zwangsweise) in sich trägt, anzunehmen und zu lieben, versucht man sich auch äußerlich jeden elterlichen Zug wegzuschaben - bis hin zur Selbstverstümmelung.
Man lügt sich selbst an
Man verteidigt das Handeln der Eltern blind und geht davon aus, dass sie aufgrund des höheren Alters mehr wissen und daher sicherlich immer nur das Beste für einen wollen - und lügt sich dabei selbst an, weil man doch spürt, dass es schmerzt und sich das Beste für einen selbst anders anfühlen muss.
Man merkt, dass man plötzlich doch selbstständiger geworden ist und einige Schritte weiter im eigenen Leben gegangen ist, sich damit von den Eltern entfernt und entfremdet hat. Schuldbewusstsein stellt sich ein. Ob der Entfernung. Und die Frage nach Überlegenheit den Eltern gegenüber. Und ob diese nun mit dem Verlust der Achtung ihnen gegenüber einhergeht?
Man merkt die Unfähigkeit der Eltern einander zu lieben. Ihre Distanz zueinander, die sie unweigerlich auf das gemeinsame Kind übertragen, das sie mehr aus Pflichtbewusstsein denn aus Liebe großziehen. Man kämpft mit dem Gedanken niemals nicht ihr Kind sein zu können. Und beginnt sich (noch mehr) zu entfernen. Emotional abzuschotten. Wie man es gelernt hat. Und lebt die Schuld, die man zeitlebens gespürt hat, weiter.
Seelen mit Papierwänden
Kinderseelen haben Wände aus Papier. Sie lassen alles an Geräuschen und Eindrücken durchdringen und einsickern. Wenn sie reißen, lassen sie sich zuweilen wieder kleben. Nur, das, was sie einmal aufgenommen haben, lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Dass die Wände mit der Zeit dicker werden, aber nicht zwangsläufig verhärten müssen, davon erzählen diese Geschichten mitunter. Sie sind verstörend. Bedrückend. Und dennoch auch hoffnungsvoll.
HANNO MILLESI, WÄNDE AUS PAPIER, Luftschacht, 2006, ISBN-10: 3-902373-19-9; ISBN-13: 978-3-902373-19-9
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