Ein kleiner Junge an einem Schulvormittag in der Pausenhalle. Er dreht sich im Kreis und sagt sich: "Ich bin der König von Lilienfeld". Es ist das Jahr 1980, sieben Jahre ist er alt. Sein Großvater amtiert seit knapp dreißig Jahren als Bürgermeister.
Der neue Roman von Martin Prinz beginnt in einer Welt, in der an manchen Hausfassaden noch Einschusslöcher aus dem Weltkrieg klaffen, setzt ein mit dem Blick eines Buben, der das Wort Politik lange kannte, bevor er es verstand. Hier treffen nächtliche Parallelwelten des Lesens auf Vorstellungen von radioaktiven Wolken oder jenen des Eisernen Vorhangs. In rasanter Engführung wechseln Jetztzeit-Passagen des heutigen Schriftstellers mit dem Aufwachsen eines Kindes in Österreich und Umgebung.
Wie lässt sich das unauflösliche Ineinander von Politik und Familie, von realen Ereignissen und ihrer Erzählung in Balance halten? Wie der Blick eines Schriftstellers mit dem eines früheren Königs von Lilienfeld? Im Haus der Großeltern entdeckt der Schriftsteller Bilder aus dem Jahr 1995: Aufnahmen, in denen es keine Motive mehr gibt. Stattdessen das Festhalten alltäglicher, zufälliger Perspektiven. Die letzten Fotografien des demenzkranken Großvaters. Damit ist der Weg des Erzählens vorgegeben.
Die unsichtbaren Seiten: Ein Heimatroman als Entwicklungsromans eines Schriftstellers. Ich mag autobiographische Romane, wo die Geschichten ins eigene Erinnern hineinführen können und die Namen und Personen gleichermaßen bekannt sind und der Wiedererkennungseffekt so manche Leerstelle wieder aus der Verborgenheit hebt.
Es knirscht
Auf Seite 21: "Die Schritte der Kellnerinnen knirschten im Kies". Soweit steht es im Roman geschrieben - und es knirscht im Gebälk zwischen Lilienfeld und Traisen. Für den wenig aufmerksamen niederösterreichischen Sonntagsschifahrer in Richtung Annaberg auf die Raidllifte unterwegs, waren die beiden Orte bloß lästige Durchzugsengen, obwohl Lilienfeld mit dem Stift und dem "bürgerlichen" Eindruck, den es auf uns machte, der offenere Ort schien - wahrscheinlich weil die Straße damals schon "moderner" war, als die Durchfahrt durchs enge Traisen, einer Arbeiterstadt mit Industrie und einer Tristesse, die sogar die hiesigen Sozialarbeiter nicht aushielten.
Und wir erfahren viel mehr über die beiden Orte; die Rivalität und so mache historische Begebenheiten; Proteste der Arbeiterschaft im angehenden 20. Jahrhundert, oder das Ende der Konsumfilialen 1995, das Atomkraftwerk Zwentendorf ... Der Autor reißt einiges an; lässt allerdings genug Spielraum, um sich selbst als Leser in die Gedankenwelten, die da vor uns auftauchen, zu verlieren. Aber nicht für lange, denn mit dem kommenden Kapitel reisen wir weiter in die nächste Erzählungshandlung.
So manche kurze Durststrecke wird abgelöst von wunderbaren Beschreibungen; zum Beispiel die Arbeitssituation und -einstellung der Großmutter, oder über die Erfindung des Laufens durch die Mutter in Lilienfeld. Die Recherchearbeit des Autors und die damit verbundenen Reisen, Begegnungen und Forschungen sind schon sehr spannend zu lesen und entwickeln einen Sog, der einen mitzureißen vermag.
Nachvollziehbar und berührend
Die Verabschiedung des Großvaters und der Verkauf des Hauses geraten zu einem besonderen Highlight des Romans, der sich aus mehreren Strängen und scheinbar lose aneinandergereihten Familienereignissen speist, und zum Ende hin nachvollziehbar und berührend bleibt. Die unsichtbaren Seiten der Heimat in Form einer Weiterentwicklung sichtbar gemacht; immer mit der nötigen Vorsicht durchsetzt und nie über das Maß der Übertreibung hinaus.
Möge es noch so manche "Lesung" im regionalen Kontext geben, um die Möglichkeit zu haben, weiter einzutauchen und den Austausch der Betroffenen zu erhören.
MARTIN PRINZ. DIE UNSICHTBAREN SEITEN. Suhrkamp - Insel Verlag. 2018. ISBN: 978-3-458-17740-1