OKAASAN

AUTORIN: MILENA MICHIKO FLAŠAR
REZENSION: KATHRIN KUNA
Nach ihrem Debüt [Ich bin] erscheint im diesjährigen Frühjahrsprogramm des Residenz Verlages nun Milena M. Flašars neue Erzählung Okasaan. Der Titel ist japanisch und bedeutet Mutter. Der Tod der Mutter steht im Mittelpunkt der Geschichte, die Auseinandersetzung der Tochter mit ihrem Verlust macht diese Erzählung fast zum Roman. Auf eine ungeheuer versöhnliche und umsichtige Art und Weise beschreibt Flašar die Gedanken, Sorgen, Befürchtungen und Fragen, die die Ich-Erzählerin nicht plagen, sondern beschäftigen, wachsen und lernen lassen. Wut und Ärger aus der Vergangenheit kommen hoch. Fragen werden beantwortet, manche direkt, andere, mehr indirekt. Bei manchen zeigt sich, dass es viele verschiedene Antworten geben kann. Sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch auf der sprachlichen geht Flašar ausgesprochen behutsam und respektvoll mit ihren Figuren um.

Etwas, dessen Verlust von niemandem ausgeglichen werden konnte, weil es sich in Wahrheit um keinen Verlust, sondern um das bloße Begleichen einer offenen Rechnung handelte. Seine Endgültigkeit war tatsächlich von der Art, wie man einen Punkt zwischen zwei Sätze tippt. Es geht weiter. Wenngleich mit einem Bruch. Die Atempause, die ihn markiert, ist die Lücke, in der zwei Menschen voneinander Abschied nehmen. Sie ist winzigklein und man könnte sie leicht übersehen.

Obwohl es um essentielle Themen der Menschheit wie Mutterliebe und Tod geht, ist diese Erzählung nie verallgemeinernd. Mit sehr viel Liebe zum Detail werden die Personen und ihre Identität beschrieben. Obgleich man keine romanartige Nacherzählung der Emigrationsgeschichte der Familie vorgelegt bekommt, kann man gut verstehen und nachvollziehen, wie das Verlassen der Heimat und die Entwurzelung auch in der zweiten Generation immer mitschwingen. Die Textstruktur entspricht hier sehr gut der Identität der Ich-Erzählerin: Die japanische Herkunft ist ein dezenter Rahmen, den man weder verstärken noch eliminieren, sondern als genau solchen akzeptieren und annehmen kann, weil er den Inhalt bedingt und zusammenhält.

... ohne in ihre Rolle nachzufolgen

Liebe anhand der Mutterliebe und der Nähe bzw. Distanz, der ungewollten wie der gewollten, zur Mutter zu diskutieren, erscheint in dieser Erzählung wunderbar selbstverständlich. Obwohl die Gedanken der Ich-Erzählerin ohnehin sehr reflektiert erscheinen, wird der erste Teil der Erzählung auch durch die Kommentare und Sichtweisen bzw. Erfahrungen von ihren Freunden gestärkt. Während die Mutter ihr Leben lang eine leidende Opferhaltung für sich in Anspruch genommen hat, findet die Ich-Erzählerin einen Weg dies an der Mutter am Ende akzeptieren und verstehen zu können, ohne jedoch in eben diese Rolle nachzufolgen. Die Umkehrung der Rollen zwischen Mutter und Kind, nimmt sie am Ende versöhnlich an.

Sie erkennt für sich Verantwortung für ihr Leben übernehmen zu wollen und entscheidet in einen Ashram nach Indien zu reisen. Dieser zweite Teil des Romans wirkt strukturell und inhaltlich zunächst befremdlich. Mit dem Verlassen der Heimat ändert sich für die Protagonistin noch einmal der Blickwinkel. Durch Begegnungen einerseits mit den östlichen Philosophien und Lebensprinzipien, andererseits mit unterschiedlichen Menschen in und um den Ashram, kann die Ich-Erzählerin noch weiter für sich Dinge aus der Vergangenheit abschließen. Die beim Lesen beinahe wohltuende Versöhnung und Auflösung findet aber im ersten Teil statt. Der zweite Teil von Okasaan wirkt wie ein Epilog zum ersten Teil bzw. wie ein Neuanfang, also der Beginn einer neuen Geschichte. Dass es auch hier nicht zu Plattitüden kommt, ist der wirklich sehr intelligent, sensibel und authentisch angelegten Ich-Erzähler-Stimme zu verdanken.

MILENA MICHIKO FLAŠAR. OKAASAN. RESIDENZ VERLAG. 2010. ISBN 978-3-701715-33-6