TOT ODER LEBENDIG

Autor*in: Ariana Zustra
REZENSION: Martin Heidl
"Ariana Zustra wurde 1987 in Dubrovnik geboren und lebt als freie Journalistin und Musikerin in Berlin. Nach dem Studium der Kulturwissenschaft und Soziologie an der Universität Tübingen absolvierte sie Ausbildungen an der Reportageschule und der Axel-Springer-Akademie. Sie leitet die Bücherseite des Musikexpress und ist freie Autorin des Philosophiemagazins Hohe Luft. Als ZUSTRA veröffentlicht sie Art-Pop. Tot oder lebendig ist ihr Debütroman."

"Am Abend vor ihrem dreißigsten Geburtstag beschließt Anna Thurow zu sterben. Oder zumindest erwägt sie sämtliche Selbstmordarten - nur keine scheint die richtige. Sie ist weder unglücklich noch glücklich, aber etwas kam ihr schon immer seltsam falsch vor. Eine Hypnotiseurin leitet Annas Fremdeln mit sich und der Welt von einem früheren Leben her: In Anna rumore der Geist eines kroatischen Juden namens Andri. Anna hält das für ziemlich große Scheiße, aber die Neugier siegt: Sie reist in Andris angebliche Heimatstadt. Überwältigt von der Schönheit Dubrovniks trifft sie über einen Kontakt der Jüdischen Gemeinde auf Anka, die diesen Andri gekannt hat, und erfährt immer mehr von der Kriegsvergangenheit Ex-Jugoslawiens und den Naziverbrechen." Soweit Ausschnitte aus der Verlagsbeschreibung ...

ANDRI, ASCHKENASI, RAGUSA

Ich wusste diesmal nicht, welches Buch ich besprechen will; es drängte sich keines auf, es gab so viele, die ...; ich konnte mich nicht entscheiden. Ich entschied mich für das Buch, das das beste, bunteste, anregendste Cover hatte. Eine gute Wahl, mal - so gesehen - dem Zufall die Auswahl zu belassen. Ist es nicht der Zufall, der uns weiter bringt?

Zufällig findet Anna Thurnow, die Protagonistin im Roman, die Visitenkarte einer "Heilerin" bei der Nachbarin; zufällig hinterlässt ihr diese die drei Wörter, die fortan ihr Leben bestimmen: ANDRI, ASCHKENASI, RAGUSA.

Und Pommes

Sie bricht auf nach Ragusa (das heutige Dubrovnik) und lebt, vom Außen verführt, ins Innere abgleitend ... Zustra startet mit einem selbstmörderischen Absatz, der den Einstieg in die Geschichte vorantreibt und einen nicht mehr loslässt. Der Roman ist vielschichtig - Depressionen, Transgenerationale Traumata, Shoa, Ustascha Tschetniks, Natur, Tourismus, Einsamkeit, Liebe, Stille ... und Pommes. Doch es wird nie beliebig oder es wirkt konstruiert - der Plot hat Hand und Fuß und beantwortet so beinahe nebenher die wichtigsten Fragen des Lebens. Wer bin ich? Was macht den Sinn aus? Fühle ich mich geborgen in meiner Welt?

Sprachlich "frisch" und ausgefeilt, Erinnerungsmöglichkeiten werden angeboten (REM - Losing My Religion, Rilke - Briefe an einen jungen Dichter ...), dazwischen Wortwitz mit Wortspielen, ausdrucksstark und "richtig" gesetzt. Ein Vergnügen sich dem Hin und Her, dem Auf und Ab auszusetzen und mitzuschwingen und sich manchmal zu fragen, ob die deutsche Historikerin noch richtig tickt. Im nächsten Absatz wiederum bekommen "Wir" eine ernste Abhandlung über eine "verlorene" Insel aufgetischt.
"Ich sah meinen Händen dabei zu, wie sie den Fisch auf dem Teller vor mir mit Gabel und Messer zerteilten. Ich glaube, von außen muss es normal ausgesehen haben. Tut es ja immer."
Oder
"Ich bin das Kind, das im Einkaufszentrum verloren geht, nur dass das Einkaufszentrum die ganze Welt ist."
Und
"Diese Stadt war halt auch nur ein Ort, an den ich mich selbst mitgebracht hatte. Und sie konnte nicht mehr vor mir verbergen, welche Finsternis sich hinter ihrer Schönheit verbarg."

Schweben Sie mit in die Gefühlsreise der Anna Thurnow und leben Sie ihre eigenen Anteile der Entfremdung soweit wie möglich mit.


ARIANA ZUSTRA. TOT ODER LEBENDIG. Frankfurter Verlagsanstalt. 2023. ISBN 978-3-627-00312-8