STIERHUNGER

AUTORIN: LINDA STIFT
REZENSION: KATHRIN KUNA
Man benötigt eine gewisse Portion Masochismus, um diesen Roman vollständig zu lesen. Grenzen und Ekelschwellen werden nicht nur ausgelotet, sondern mitunter ausgereizt.

Die Ich-Erzählerin ist eine junge von Essstörungen und Schlankheitswahn geplagte Frau. Nachdem sie ihre Sucht scheinbar schon einmal unter Kontrolle bekommen hatte, wird sie durch eine Einladung einer älteren Dame zu Tee und Kuchen wieder ausgelöst. Nicht nur der eigene Zwang nimmt hier wieder seinen Anfang, auch ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dieser alten Dame, Frau Hohenembs, und der jungen Frau beginnt. Während wir uns noch Fragen, wie es dazu kommen konnte, was der Auslöser für den Rückfall sein könnte, befinden wir uns schon mitten in einer rasant voranschreitenden Geschichte, die auf dem Weg vom Krimi zum Psychothriller auch Elemente des historischen Romans einflicht, aber auch humorvolle und skurrile Liebesschilderungen streift.

Ambivalenz von Liebe, Wahnsinn und Werten

Anfängliche Besuche bei Frau Hohenembs und ihrer Dienerin, der dicken Ida, führen zu gemeinsamen Spaziergängen, einem Picknick und schließlich zu Ausflügen an Orte abseits der Touristenroute und den aus Monarchiezeiten übrig gebliebenen Wienkulissen. Das Sexmuseum im Prater wird ebenso beschrieben wie der Narrenturm im Alten AKH. Die architektonischen Repräsentanten des Wahnsinnspotentials der Stadt Wien spielen eine nicht unwesentliche Rolle wie auch die ehemalige Kaiserin Elisabeth. Auf mehreren Erzählebenen ist ihre Geschichte mit der der Protagonistinnen dieses Romans geschickt verwoben, anekdotische Auszüge dieser finden sich in Textpassagen, die kursiv zwischen die Hauptgeschichte gedruckt wurden und von einer ehemaligen Vertrauten der Kaiserin stammen.

Linda Stift beschreibt in ihrem zweiten Roman ebenso klar und unverblümt wie in ihrem viel gerühmten Debüt "Kingpeng" die Ambivalenz von Liebe, Wahnsinn und gesellschaftlichen Werten. Messerscharf skizziert sie wiederum das Portrait einer jungen und verzweifelten Frau, die Geschichte einer Frauwerdung, die von seelischen und körperlichen (Selbst)Verletzungen geprägt ist.

Erbrochenes in Marmeladengläsern

Um wirklich alles verdauen zu können, muss man den Roman wohl mehrmals lesen; ihn in kleinen Portionen zu lesen ist eine langsame Qual, vielleicht aber für manche(n) notwendig. Verschlingen kann man ihn nicht. Obwohl die spannende Erzählstruktur des Buches das Weglegen schwer macht, ist die Thematik dann doch zu deftig. Es ist nicht nur eindrücklich, wie sich die Übelkeit der Hauptdarstellerin durch Linda Stifts Sprache und Tonfall auf einen selbst überträgt, es ist erschütternd.

Die Zerstörungsgewalt der Krankheit Bulimie wird klar, die Ausprägungen der Abhängigkeit in kleinsten Details geschildert, so zum Beispiel, wenn die Protagonistin mangels eines Klos ihr Erbrochenes in ehemaligen Marmeladengläsern verstaut und leeren Joghurtbechern zwischenlagert. "Faszinierend" wäre das falsche Wort, aber beeindruckend ist es, wie einem von einem so guten Stück Literatur so schlecht werden kann. Nachhaltige Übelkeit, die einen Tee trinken und nachdenken lässt, ist eine mögliche Post-Lektüre-Erscheinung.

LINDA STIFT, STIERHUNGER, Deuticke, 2007, ISBN 978-3-552-06068-5