Die Wiener Autorin beschäftigt sich in diesem Krimi mit einem aktuellen gesellschaftspolitischen Thema aus dem pathologischen Bereich: Stalking. Im Deutschen haben wir dafür kein eigenes Wort, das Phänomen muss wohl in den USA entstanden sein.
Falsch gedacht. Wikipedia belehrt mich eines Besseren: "Unter Stalking (deutsch: Nachstellung) wird im Sprachgebrauch das willentliche und wiederholte (beharrliche) Verfolgen oder Belästigen einer Person verstanden, deren physische oder psychische Unversehrtheit dadurch unmittelbar, mittelbar oder langfristig bedroht und geschädigt werden kann. Stalking ist in vielen Staaten ein Straftatbestand und Thema kriminologischer und psychologischer Untersuchungen."
Selma hat ihre neue Wohnung bezogen. Im selben Haus, auf demselben Stockwerk am Ende des Flurs befindet sich ihre Praxis, für die sie so lange gearbeitet hat. Gerade, als sie sich ihre Karriereträume erfüllt hat und auch in ihrer Beziehung mit dem Fernsehberichterstatter und Journalisten Martin wieder einigermaßen ihren Platz gefunden zu haben meint, stellt sie fest, dass einer ihrer Nachbarn vom Haus gegenüber ihr nachstellt. Geheime Liebesbotschaften, also Briefe und Rosen vor der Tür, sind der romantische Beginn dieses Alptraums. Einen heimlichen Verehrer findet man heutzutage wohl auch eher unheimlich, man kann aber gut nachvollziehen, dass die Romantik ein Ende und die Paranoia, v.a. aber die pure Panik relativ schnell einen Anfang hat, wenn man merkt, dass der Fremde aktiv in die Privatsphäre eintritt, räumliche Grenzen überschreitet und tatsächlich auch zur physischen Bedrohung wird.
Zelebrierter (Liebes)Wahnsinn
Das Unwohlbefinden der Protagonistin wächst und wächst. Ebenso ergeht es einem beim Lesen. Abwechselnd erhält man Einblick in Selmas Welt und auch ihre eigenen Zweifel an dieser und in die Gedanken und Vorstellungen des obsessiven Täters. Es gibt keine Verurteilung, beide Seiten werden dargestellt, für beide Seiten kann - wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß Verständnis aufgebracht werden. Der Leser wird wie im klassischen Krimi fast in die Rolle eines Detektivs versetzt bzw. durch die Thematik eines Psychothrillers in eine Art Analytiker-Position. Die Autorin zeigt konsequent beide Seiten auf. Diese sind rein graphisch im Text durch verschiedene Schriftarten markiert, literarisch unterscheiden sie sich in der Form. Selmas Sicht wird in Form einer Ich-Erzähler-Perspektive geschildert, die Perspektive des Stalkers wird als Anrede an das Opfer formuliert. So zeigt der imaginäre Dialog, in dem sich der Täter mit seinem Opfer befindet, literarisch sehr gut die Intensität seiner Phantasien und Sehnsüchte, sowie den (Liebes)Wahnsinn, den dieser nicht nur zelebriert, sondern in welchem er ebenso gefangen ist, wie das Opfer.
Selmas Leben zerbröckelt Stück für Stück. Selbst Therapeutin ist sie nicht davor gefeit ihre eigene Wut und ihren eigenen Wahnsinn unter die Lupe zu nehmen. Sie stößt dabei an ihre eigenen Grenzen: "Die Vernunft, die mich zusammenhielt, um gewappnet zu sein gegen das, was jederzeit passieren konnte; der Schutz gegen den prophezeiten Fehltritt, er konnte jederzeit wegbrechen."
Fazit: Dieser Krimi ist etwas für hartgesottene Thriller-LiebhaberInnen. Wenn Sie nach Das Schweigen der Lämmer wochenlang mit Schlafstörungen zu kämpfen hatten, bleiben Sie lieber bei Agatha Christie. Das ist auch gute Krimiliteratur, aber eben gemütlicher. Selmas Zeichen ist sehr ungemütlich, aber auch sehr gut.
AMARYLLIS SOMMERER. SELMAS ZEICHEN. MILENA VERLAG. 2008. ISBN