DAS LEBEN IST KEIN ZIRBENZIMMER

Autor*in: DOMINIKA MEINDL
REZENSION: Markus Köhle
Hallstatt am Cover, der Titel von Kreisky, der Ich-Erzähler aus China - geschrieben von der Bundespräsidentin der Herzen, Dominika Meindl. Ein eminent politisches Buch. Jetzt schon ein Buch des Jahres. Ach was, Welterbe. Das Buch zur Kulturhauptstadt. Aber rollen wir gemächlich auf, was uns von der ersten bis zur letzten Seite so begeistert hat.

Johanna übernimmt die Hausarztpraxis ihres verstorbenen Vaters in Hallstatt. Ihre Zwillingsschwester Doris hielt die Stellung, hält das Handwerk (Tischlerin) hoch und in der Freizeit ist sie am liebsten in den Bergen (sommers wie winters). Johanna hat das Elternhaus auszumisten und die alten Patient*innen zu übernehmen. Doris baut die Häuser um und kennt sich so aus im Inneren der Häuser, Johanna versorgt die Menschen und kennt sich so aus im Inneren der Menschen. Und selbst im Salzkammergut ist das Leben kein Zirbenzimmer.

Die Hausbesuche sind atmosphärische Einblicke in diverse Wohnverhältnisse und ergreifende Milieustudien. Wir lernen Andrej kennen, der in seiner Funkion als Post Growth Manager auf die Tourismusumtriebe im Salzkammergut blickt und seine Frau Maria sehr früh verliert. Auf ihn wiederum wird als attraktiven Witwer geblickt.

Groß, skrupellos, visionär

Und der Ich-Erzähler? Der ist in China-Restaurants zwischen Prato und Bad Ischl groß geworden, dann nach China zurückgekehrt (worden) und hat dort als Destinations Designer Karriere gemacht. Er, der in Österreich Patrick genannt wurde, war maßgeblich daran beteiligt, dass Hallstatt in China nachgebaut wurde (raubkopiert sagen die Einheimischen). Er denkt groß, skrupellos, visionär. Er kennt beide Seiten. Er will alles und ist somit das Gegenteil von Andrej. Der weniger von allem will. Der Ich-Erzähler ist auch der Gegenpol von Johanna und Doris was den Respekt der Landschaft gegenüber betrifft. Doris und Johanna leben für die Berge und lieben die Berge. Sie erleben ihre schönsten Momente dort und die Ski- und Wandertouren sind auch ein Highlight, des an Höhepunkten reichen Romans.

Ja, es geht um Overtourism. Aber es geht vor allem um die Menschen. Um die Menschen, die auf den jeweiligen Seiten stehen und es sollen im Laufe der Geschichte von den Hauptfiguren auch die jeweils anderen Postionen eingenommen werden. So werden die Einheimischen dann auch zu Reisenden, die mit anderen Augen auf das Dargebotene schauen. Es geht in diesem Buch ohnehin sehr um die Blicke von außen, die sich leichter damit tun, zu beschreiben, was Sache ist. Einheimische beziehungsweise Insider der Materie sind ja gerne betriebsblind oder, um es mit Andrej zu sagen: "Wo könnten die Leute hier alle stehen, wenn sie ihre Dickköpfigkeit für Sinnvolles nutzten."

Verlust und der Umgang damit ist ein Thema, mit dem souverän umgegangen wird. Denn die Figuren haben zwar alle alle Hände voll zu tun, verlieren aber selten ihren Alltagsschmäh und nie ihre Menschlichkeit. Sie sind erfreulich ungekünstelt lebensnah gezeichnet. Sie furzen, rülpsen und weinen. Es fällt ihnen schwer, gewisse Dinge zu verstehen, es fehlt ihnen nicht an Größe, Schwächen einzugestehen. Sie sind durch und durch glaubwürdig, liebenswürdig und eben auch liebebedürftig. Wir Lesenden können diese Figuren (den Ich-Erzähler freundlich ausgenommen) sehr gern lieb haben. Weil wir alle, wie Hannibal Lecter und auch Johanna, wissen, dass wir das, was wir alltäglich sehen, begehren. Es gehe immer um Schönheit, heißt es an einer Stelle. Dass, um Schönheit würdigen zu können, die Blase nicht drücken darf, macht der Text mehrmals klar. Blasen an den Füßen mögen Trophäen mehrtägiger Wanderungen sein. Aber volle Blasen relativieren jede Schönheit.

Smogvernebelung

Neben einem Familien- und Freundschaftsroman (Tiere inbegriffen), einem Roman über Tourismus-Ist-Zustände und potenzielle Auswüchse, ist dieses fulminante Debüt auch ein Reiseroman. Es gelingt Dominika Meindl die Schönheit des Salzkammerguts einzufangen, es gelingt ihr aber auch, die Größe und Weite und Smogvernebelung Chinas dermaßen plastisch zu schildern, dass man als Lesender augenblicklich zu husten beginnt und die Wohnung lüftet. Weil die Luft hierzulande ist ein Schatz, der nicht oft genug geborgen werden kann. Also nur herein damit (und warum nicht auch abfüllen in Dosen und teuer verkaufen?). Man macht sich als Lesender auch gerne zwischendurch ein Bier auf, denn es wird auch viel und gerne lustvoll getrunken, ja, auch gesoffen (Ich-Erzähler freundlich mitgemeint).

Natürlich ist "Selbe Stadt, anderer Planet" ein erstes Buch. Ein durch und durch komisches, lehrreiches, unterhaltsames, lebensweises, ernstes, lustiges Buch. Ein positives Buch mit gut österreichischer Grundierung. Es ist ausgewogen ambivalent. Es packt dich an der Wurzel, ergreift dein Herz, macht dich schlucken, lässt dich aufstoßen, schlägt dir kollegial (viel zu fest) auf die Schulter und nimmt dich am (und auch mal auf den) Arm und tritt dir in die Kniekehlen (und auch mal in den Hintern). Denn Niederknien ist angebracht.

Dieser Text nimmt dich umgehend in Schmeichelhaft. Er schmiert sich ins Hirn und streift dir um die Beine. Er nimmt dich ein und mit auf Berge und in Tourismushöllen, auf Skitouren und Abwege. Wir folgen diesem Erzählsound überall hin, er geht durch Mark und Gebeinhaus, durch Grundlsee und Pekingente, durch Arzt- und Lebenspraxis, bis zum potenziellen Happy End für alle auf der Metaebene und dem schlussendlichen Auflösen des Fiktionsvertrags.

SELBE STADT, ANDERER PLANET. DOMINIKA MEINDL. Picus 2024. ISBN 978-3-7117-2144-0