Wenn man um 5:30 Uhr nach sechs Stunden FLIX-Bus-Fahrt ausgespuckt am ZOB-München zombiemäßig zum Hauptbahnhof zappelt, der heruntergekommen und in Summe noch so zu ist, wie all die für den Wochenendmulatschak aus der Provinz in die Stadt eingefallenen Lederhosen und Minischlauchkleider; wenn man es sich irgendwo am grindigen Bahnhofsboden leidlich gemütlich gemacht hat, und nicht in grüne Gesichter sondern in ein Buch schauen will, und einem das trotz der in Ansätzen angeführten Umstände problemlos gelingt, ja, mehr noch, einen das Buch nicht nur ratzfatz fesselt und die Jugendlichen, die rund um einen ihre Mageninhalte, Brüste oder Resthemmungen verlieren, vergessen, ja, fast nicht wahrnehmen lässt, spricht das eindeutig für das Buch. Wenn man sogar bis zum Umsteigen in Mühldorf am Inn darin versunken bleibt und nur aus den Augenwinkeln mitkriegt, wie die Landjugend Schwierigkeiten hat, den Niveauunterschied beim Ausstieg zu meistern und bodenküssend, wie einst der Pontifex Wojtyla, auf heimatliche Erde klatscht, dann mag die Umgebung zwar allerhand können, aber das Buch kann mehr. Es gibt einem Halt in schwierigen Stunden, es ist einem Schutzschild in verletzlichem Zustand, es ist einem ein treuer Begleiter in Zeiten wie diesen.
Rosa könnte das Mädchen mit dem Schäferhund- am rechten Unterschenkel und dem Dartscheiben-Tattoo auf der linken Kniescheibe heißen; rosa färbt sich grad der Himmel über Oberbayern; "Rosa gegen den Dreck der Welt" hieß Nadja Buchers Debütroman aus dem Jahre 2011; "Rosa gegen die Verschwendung der Welt" heißt das Buch, das mich bei Laune hält, das ich in Händen halte. Wir begegnen darin der Öko-Putze, die sich vor 12 Jahren in unsere Herzen gewienert hat wieder. Wiedersehen macht Freude, auch wenn es angesichts des Weltzustands wenig Anlass zu Freude gibt. Schauplatz: Wien. Zeit: Gegenwart. Rosa ist - nona - älter geworden. Sie ist gleich mehrfach in den Wechseljahren: körperlich, beruflich und privat. Auf diesen Ebenen erfahren wir allerhand über Rosa 2.0. Wir tauchen ein in ihren Wandel von der Einfrau-Waffenradputzkolonne zum Social-Media-, Stopp! Cut! Nicht gleich zu viel verraten. Erst mal ein Inhaltsabriss. In "Rosa gegen die Verschwendung der Welt" begleiten wir Rosa durch ein turbulentes Jahr mit AMS-Kurs auf der Donauplatte und Salzburger-Festspiele-Auftritt - mehr soziale Schwankungsbreite ist hierzulande kaum möglich. Rosa will nicht mehr putzen, sie will auch nicht missionieren, sie will was Sinnvolles tun und stolpert beiläufig in die Social-Media-Falle, die sie erst zum Star und bald zum Opfer macht: Rise - Shine - Fall (klingt wie Frühling, Sommer, Herbst). Rosa durchläuft die Jahreszeiten und Stadien der Social-Media-Welt, die zwischen Himmel und Hölle noch viele weitere Staunstufen bereit hält.
Hartnäckige Schlieren
Da der Roman durchaus auf Dialoge setzt und da auch gekonnt unterschiedliche Register zieht, seien an dieser Stelle die Figuren ins Rampenlicht der Rezension gezerrt: Frau Hartman ist über 90 und mit allen Wassern des Wiener Schmähs gewaschen, leider verfällt sie grad zunehmend und ist nicht mehr ganz dicht. Das macht sie zu einer perfekten Gesprächspartnerin für Rosa. Herr Novotny war der Letzte, für den Rosa putzte. So wie man sich oft schwer von an sich nutzlosen, aber lieb gewonnenen Gegenständen trennt (zum Beispiel durchgeschwitzte Festivaleintrittsarmbänder), so kann auch Rosa den Beamten a. D. nicht so schnell loswerden, und Herr Novotny zieht hartnäckige Schlieren durch Rosas Werdegang. Bertram ist Kapitalist mit humanem Anstrich und offen zur Schau gestellten Lastern. Mila ist eine hochtalentierte Digital-Native-Rotzfrechnase und - last but not least - gibt es da auch noch die wallende AMS-Beraterin.
Nadja Bucher gelingt es, dass man alle Figuren mag, denn alle haben ihre guten und schlechten Seiten. Alle, nicht nur Bertram, dürfen ihre Laster ausleben und Rosa selbst ist natürlich auch weit davon entfernt, ein Ideal zu verkörpern. Dafür, dass sie nicht zur Predigerin mit Macht wird, sorgt die Reinigungskraft Internet. Dafür, dass sie nicht zum sozialen Outlaw wird, sorgt Bertram. Dafür, dass sie nicht obdachlos wird und die Idee für ihre berufliche Zukunft hat, sorgt Hartman. Dafür, dass sie ihre 15 Minuten Ruhm hat, sorgt Mila. Dafür, dass ihre Vision Fundament und Füße kriegt, sorgt die AMS-Beraterin. Dafür, K&K-Amtsdeutsch und Wörter wie "töricht" in die gepflegte Konversation einzubauen, sorgt der Hausschlapfen-Novotny. Rosa wird also ganz schön umsorgt und selbst auf Psychopharmaka wird sie von einem "Lebwes" aus einer fernen Welt heimgesucht, das mehr wohlwollend als furchteinflößend ist. Das alles hat sich Rosa verdient, die paar Trolle und Hater fallen da gar nicht so ins Gewicht. Dass Rosa eine Entwicklung durchmacht, die in einer Geschäftsidee gipfelt, bei der einige Personen aus ihrem Umfeld wichtige Funktionen innehaben, ist ein gelungener Schluss für diesen Roman, der nicht nur gut sein will, sondern auch gut tut. Und wo bleibt der zitierbare Satz ohne Häufung von Hypo- und Parataxen? Der muss natürlich zum Schluss kommen: 36 Jahre nach Spider Murphy Gangs Skandal um Rosi folgt Nadja Buchers Skandal um Rosa. Möge er Leser*innen wachrütteln, Literatursperrbezirke sprengen und die Welt für ein paar Stunden zu einer besseren machen.
NADJA BUCHER. ROSA GEGEN DIE VERSCHWENDUNG DER WELT. Edition Atelier. 2023. ISBN 978-3-99065-090-5