Anthologien sind immer etwas Besonderes, bieten sie doch literarische Sichtweisen mehrerer AutorInnen zu einem bestimmten Thema innerhalb eines Buches. Etwas ganz Besonderes ist die vorliegende Anthologie, in der sich neun Schriftstellerinnen aus dem "Wortraum", der Plattform für Oberländer Autorinnen, an die Neuinterpretation von neun Psalmen wagen.
"Das wirklich Neue an den vorliegenden Texten ist der Perspektivenwechsel", so der evangelische Pfarrer Bernd Fetzer in seinem ausführlichen Vorwort. "Wird im kirchlichen Kontext die Erfahrungswelt mit der Brille der Psalmen betrachtet, so gehen die Autorinnen den anderen Weg. Die Psalmen werden aus der Perspektive der Welterfahrung gelesen".
Unter den neun Frauen, die in diesem Buch allesamt sowohl im Dialekt, als auch in der Hochsprache schreiben, finden sich auch sieben Autorinnen (Gerda Bernhart, Lea Jehle, Angelika Polak-Pollhammer, ChristiAna Pucher, Annemarie Regensburger, Ingeborg Schmid und Brigitte Thurner), die mitsammen schon über sechzig Mal in DUM vertreten waren.
versink ih in dreck
Am Beginn jedes Kapitels steht der Ausgangstext, der jeweilige Psalm, es folgen die Neuinterpretationen der Tiroler Autorinnen. Die Bilder im Psalm 69 beispielsweise, die massive Bedrohungen der menschlichen Existenz in sich tragen, wie "Hilf mir, o Gott! Schon reicht mir das Wasser bis an die Kehle. Ich bin in tiefem Schlamm versunken und habe keinen Halt mehr: ich geriet in tiefes Wasser, die Strömung reißt mich fort" werden von Annemarie Regensburger im Oberländer Dialekt neu geschrieben - in sumpf steckn / gschpiernen / wenn ih so weiter tue / versink ih in dreck / ... / han mir die haxn augschprungen / fiar dih / und dass die weiberleit / endlig ier kirche / an weart kriegn sellen / aber darfiar han ih lei / an fueß in arsch kriegt / ...
Dieses kurze Textbeispiel zeigt schon, dass in diesem Buch durchaus auch kritischen Gedanken Platz eingeräumt wird. Oder Psalm 88, in dem es um die Übermacht und gleichzeitige Alltäglichkeit des Todes geht, dem Ingeborg Schmid folgendermaßen gegenübertritt:
ih plearch und koar kimmet / plearch lautar und koar kimmet / nöh lautar und nöh koar kimmet / sein se olle gongen // hons nit gehearcht / vor lautar plearn.
so stirbt sigs leichter
Einen leichten Hoffnungsschimmer in dieses düstere Thema bringt Angelika Polak-Pollhammer, die darauf vertraut, dass "danach noch was isch" - isch nit lei finschtr / danach wartet epper // so stirbt sigs leichter.
Um auch eine hochsprachliche Replik zu beleuchten, hier ein Beispiel zum Psalm 90, der um das Thema der Vergänglichkeit kreist. Bei Alexandra Kleinheinz geht es um den Verlust eines geliebten Menschen, die Trauer und auch darum, dass sich die Erde nach einer Schrecksekunde dann doch immer wieder weiterdreht - plötzlich / einen geliebten menschen verloren / die erde bleibt stehen / für einen augenblick / werden minuten zu stunden / stunden des stillstands / und dennoch wird es abend / und es wird morgen.
Zum Abschluss des Buches werden noch die Texte Jeremia 20 und Hiob 3 neu interpretiert, die laut dem deutschen Theologen Bernd Janowski "Konfliktgespräche mit Gott" sind, weit über die bekannte Klagelyrik hinausgehend.
ich war decht viel lieber in mueterleib drei gschtorbm
Hier sei noch einmal Annemarie Regensburger zitiert, die am Anfang ihres Textes sehr "psalmentreu" - wenn wir aso weiter tien / weards ins schlecht giahn - klingt, um sich dann sehr weit davon zu entfernen - ih han auf mei mueter an hass / dass dia mih auf d walt bracht / mih nit otriebm / ich war decht viel lieber / in mueterleib drei gschtorbm. "Reifes Korn keimt aufs Neue" - eine beeindruckende und absolut lesenswerte Lyrik-Anthologie zu einem sehr ungewöhnlichen Thema!
ANNEMARIE REGENSBURGER (HG.). REIFES KORN KEIMT AUFS NEUE. Kyrene Verlag. Innsbruck - Wien. 2017. IBSN 978-3-902873-59-0