IDIOSYNKRATWANDERUNG ALLTAG?

Autor*in: XAVER BAYER
REZENSION: Markus Köhle
Warum liest du? Was suchst du in Büchern? Willst du von Spannung gefesselt, von Geschichten umgarnt oder von Figuren angezogen werden? Willst du dich selbst erkennen oder was finden, das dir was gibt: Rat, Halt, Möglichkeiten? Willst du ganz abtauchen im Text oder dich von einzelnen Sätzen in dein eigenes Phantasie-Territorium katapultieren lassen? Ist letzteres dein Begehr, dann nimm das neue, schlicht mit "Poesie" betitelte Buch von Xaver Bayer zur Hand. Mir fallen während der Lektüre einige mögliche Titel für das Buch ein. Ich werde sie in Versalien in den Besprechungstext tropfen lassen. Zum Beispiel so: KNÖTERICH UND DU. Poesie also. Was macht diese kurzen Texte aus? Auf jeder Seite eine Momentaufnahme und mindestens ein Wort, eine Wendung, ein Satz, der dich wegbeamt, sofern du es zulässt. "Ein Wort und schon ist man ins Netz gegangen." (S. 23)

SATZKETTENKARUSSELL ENTSCHLEUNIGT. Mal wird was eingefroren, mal zurückgespult, mal in Zeitlupe fest- und auf ein Detail gehalten, das dann von selbst zu funkeln beginnt. DIE GERICHTSBARKEIT DER TAGE, DIE HELLE DER NÄCHTE. Wörter erblühen, Satzschlingpflanzen machen sich über dich her. "Die Morgensonne hat bereits ihre Strickleitern ins Zimmer gerollt." (S. 10) Da ein Lichteinfall, dort ein Geräusch, da eine Kiste voll Überraschungen und was kriecht dort im Eck und was schabt da an den Ziegeln? DACHBODENERKUNDUNGEN. Es wird sich im Internet nach dem gerade Erlebten vergewissert. Nichts ist hier fix, alles poetisch. UNBEWEGLICHKEITSREISE MIT ALLES. Ein Text in "Poesie" steht für alle, liefert eine Art Poetik: "Je achtsamer man schaut, / desto länger dauert der Weg. / Irgendwann wächst ein Gänseblümchen zur Größe eines Mammutbaums, und man selbst ist zum Winzling geschrumpft. (...) Und unversehens ist man wieder unterwegs, / als ungeschlachtes Mammut, das die Gänseblümchen zertritt, / die sich widerstandslos beugen und brechen." (S. 28)

DES GLASLUSTERS WURZELGEFLECHT. Bayers Poesiesplitter sind Schiefer, die unter die Haut gehen, die die Realität anstupsen, mitunter ins Wanken und oft Schönes hervorbringen. DIE LEICHTEN GEDANKEN DER KARYATIDEN. Momentaufnahmen mit Bayer-Filter, das ist nichts Pharmazeutisch-Chemisches, das ist immer was Traumwandlerisch-Poetisches. Man wird mit mit dem lyrischen "man" zum Flieger im Traum und zum Aufspürer von besonderen Begebenheiten. "Plafond" kommt oft und gerne vor, obwohl der Horizont des Ausgedrückten weit weiter.

ZEHENABDRÜCKE AUF DER WINDSCHUTZSCHEIBE LEBEN. In Summe geht es in "Poesie" darum, das Sensorium dafür zu entwickeln, Schönes in der eigenen Lebensumwelt wahrnehmen, begreifen und sich daran erfreuen zu können. Schönes ist am Bildschirm, im Wald, in Traumwelten ebenso zu finden wie in Stadtrandbrachen- und Gstättenverdichtung. "Ein Schmetterling, verschwenderisch bunt, taumelt in Zeitlupe durch das Bild." (S. 51). "Poesie" ist eine Einladung zur Huldigung jeglicher Verschwendung, zum gelegentlichen In-Zeitlupe-durch-das-Leben-Taumeln, zum Sehen des Schmetterlings, nicht der Larve. "Denn hinter allem lügt die Wildnis." (S. 67). TROPFSTEINHÖHLE ALLTAG. Ein Buch zum immer wieder Reinblättern und sich in den Seiten Verlieren: ein Wegknips-Brevier.

XAVER BAYER. POESIE. Jung und Jung. 2023. ISBN 978-3-99027-283-1