Was macht Krieg, Vertreibung, Entwurzelung aus einem? Wie kann man wieder Fuß fassen dort, wo man angelangt ist? Was bleibt, was treibt einen um, was wird man nie wieder los? Was hilft, das Erlebte zu verarbeiten? Große Fragen. Robert Prosser hat sich in seinem großen Roman "Phantome" all diesen Fragen gestellt und sich die Antworten nicht einfach gemacht. Am Anfang seiner Beschäftigung standen auch Fragen. Er musste sich 2013, bei einem Kurzbesuch in Sarajevo, eingestehen, kaum etwas über Bosnien zu wissen. Er begann daraufhin ein familiär nahestehendes Paar zu interviewen und das war der Beginn einer immer intensiver werdenden Auseinandersetzung mit dem sogenannten Jugoslawien-Krieg. Über zwei Jahrzehnte sind vergangen, die Opfer sind mittlerweile bereit und gewillt über ihre Schicksale zu reden und Prosser sammelte diese, konnte als Außenstehender und der Landessprache bewusst nicht mächtiger ein guter Zuhörer sein.
Der Roman hat einen 2015 und einen 1992 Teil. Zuerst lernen wir einen Graffiti Sprayer und seine Freundin Sara kennen. Dann geht es um die Geschichte von Saras Mutter Anisa. Die Teile unterscheiden sich sprachlich. So soll das auch in dieser Besprechung sein.
Prosa mit Drive
Zum ersten 2015er Teil: Prosser-Prosa mit Drive. Der Held mit bosnischer Freundin, Rapid-Ultras Vergangenheit und Sprayer Gegenwart. Tuzla und Wien. Sarajevo und Banja Luka. Geschichte von Land und Leuten. Gräuel 1992. Gräuel 1938. Typen in Tuzla. Partys in Tuzla. Menschen, die gingen und Menschen, die blieben. Adrenalinkick und knallendes Leben. Bosnien wird bereist und Sara ist für den Schwabo die Eintrittskarte in die Gesellschaft. Das klingt alles gut jung und szenig, nicht zu nerdig, nicht affektiert. Da wird geballt Wissen vermittelt. Da werden Einblicke in Szenen gegeben, die man so noch nicht gelesen hat. Das macht Lust auf mehr. Dann der Bruch im Buch. Wir werden zurück ins Jahr 1992 katapultiert und mit neuen Figuren konfrontiert.
Nun dreht sich alles um die Schicksale von Anisa und ihren Freund Jovan. Es wird immer wieder hin- und hergeblendet, mit gut gesetzten Schnitten. Das ist der Hauptteil von "Phantome". Wer sind die Phantome? Für Jovan - nachdem er desertierte und Anisa flüchtete - seine Freundin Anisa (und umgekehrt): "Jovan hat keine Ahnung, wie er dieses Phantom auf die Wand bringen soll. Wie waren die Farbe ihrer Augen, ihre Lippen, ihre Haut, rätselt er, wie änderten sich diese Farben, wenn sie wütend, glücklich, gedankenverloren war?" (155)
Zeichnen und singen
Jovan sucht und findet halt im Zeichnen und nachdem er in Belgrad wieder aufgegriffen, in die Berge verfrachtet wurde und in der bosnisch-serbischen Armee dienen musste, im Singen traditioneller Svedah-Lieder zur Erinnerung an die nicht-serbischen Freunde. Anisa, die es nach Wien schaffte, streift gern durchs Kunsthistorische Museum, um auf andere Gedanken zu kommen, um ihre Gedanken zu verarbeiten. Sie fühlt sich noch nicht angekommen in Wien: "Sprachlosigkeit ermöglicht Abstand, und das Deutschlernen kommt ihr wie das freiwillige Eingeständnis vor, nicht an eine Rückkehr nach Bosnien zu glauben." (138)
Die Geschichten beider spitzen sich parallel erzählt zu. Auf was sie zusteuern sei natürlich nicht verraten. Dass der Roman aber mit einem neuerlichen Twist aufwartet, ist erfreulich und gekonnt. Robert Prosser gelingt es in "Phantome" die großen Themen unserer Gegenwart und die nahe Vergangenheit unseres ehemaligen Nachbarlandes ins Licht zu rücken. Dieses Licht ist ein Suchscheinwerfer durch Bosnien, Serbien und Wien, durch den Alltag von Flüchtenden und Kriegsdiestleistenden, dem man gerne und ob der sprachlichen und formalen Umsetzung mit Begeisterung folgt. Höchst erfreulich, dass es Robert Prosser mit dem mehr als bloß engagierten Roman "Phantome" auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.
ROBERT PROSSER. PHANTOME. Ullstein fünf. 2017. ISBN 978-3-96101-009-7