ZEITUMKEHRSCHUB UND SCHWERELOSE WORTFLUGKÖRPER

AUTOR: JÖRG ZEMMLER
Rezension von Markus Köhle
"papierflieger / luft" ist eines der skelettierten Gedichte in diesem titel- und paginierungslosen Buch und im letzten Gedicht ruft das lyrische Ich dazu auf, ihm einen Papierflieger mit Luft drumrum zu zeichnen, denn geschrieben sei dieser schon. Diese Besprechung ist eine Nachzeichnung dessen, was Zemmler bereits geschrieben hat und zwar in dermaßen reduzierter Form, dass das Nachgezeichnete dick aufgetragen daher kommen muss.

Ich folge also der Aufforderung und all die folgenden Worte sind die Luft um das bereits Geschriebene. Die heiße Luft allerdings, die den Papierflieger aufsteigen, segeln, gleiten lassen (ich kann es mir leisten, so verschwenderisch mit Verben umzugehen). Tun wir also was gewünscht und besprechen wir die Wortanflugkörper. Aber fangen wir beim Hangar an.

Raumzeitkrümmung

Dieses Buch ist eine Raumzeitkrümmung. Dieses Buch lässt den Worten Raum und lädt die LeserInnen ein, sich Zeit zu nehmen. Bei Prosabänden diesen Formats kann man von einer Lesezeit von durchschnittlich zwei Minuten pro Seite ausgehen. Die große Kunst und auch das Vergügen für die LeserInnen wäre, sich auch für diese Seiten je zwei Minuten Zeit zu nehmen. Auch wenn da mitunter nur zwei Worte stehen. Das geht und das ist die Stärke dieser Texte. "umarm / dich" ist ein leichtes und körperliches Beispiel. Der Rest ist "was zu wünschen / du / übrig lässt".

Wer das Ganze im Schnelldurchlauf liest, kann auch seinen Spaß haben, allein "die zweite / welle / ist die die / überrascht".
Zuweilen haben diese Gedichte aphoristische Kraft und Nachhall "es kann nicht mitleid sein / wenn du es nicht verstehst".
Es kann aber sehr wohl Lyrik sein. Was man wie versteht, ist die persönliche Freiheit und der intendierte Spielraum. Ein klarer poetologischer Hinweis scheint mir folgendes Gedicht zu sein: "in einem raum / voller bewegungsmelder / einen nachmittag / das stillhalten geübt".

So wenig wie nötig und doch ausreichend

Bei all dem kursierenden Wortmüll und von allen Seiten hereinbrechenden Informationsfluten einfach so wenig wie nötig und doch ausreichend viel sagen. So betrachtet, ist das Verdichtung im besten Sinn. Manche Papierflieger mögen manchen zu einfach gefaltet sein, um überhaupt zu versuchen, ihnen Leben respektive eigene Gedanken einzuhauchen. Aber vielleicht hilft es, wenn ich Wind - also Luft drumrum - dafür mache.

Diese Gedichte tun niemandem weh, sind einfach und immer wieder zu lesen und können denjenigen gut tun, die bereit sind, ihren Gedanken Flügel zu verleihen. Für alle anderen gibt es Trost: "wer weint / gewinnt".

Beruhigend und für Rezensenten äußerst praktisch ist, dass Zemmler auch den für jede Besprechung bestens geeigneten (vor-)letzten Satz liefert: "und wenn dir / nichts anderes einfällt / dann ist es das". Gut gezemmlert Jörg.

JÖRG ZEMMLER. PAPIERFLIEGER LUFT. Klever Verlag. 2015. ISBN 978-3-902665-99-7