Helena Adler ist verstorben.
Sie lebte von 1983 - 2024.
Als ich die Todesnachricht las, berührte es mich sehr, dass eine junge Frau so "früh" gehen musste, persönlich kannte ich sie nicht.
Ich lernte ihre zwei Bücher kennen:
"Die Infantin trägt den Scheitel links" und "Fretten".
Beides Empfehlungen einzutauchen in eine Sprach-Welt der besonderen Art.
Im Sommer heurigen Jahres ist posthum "Miserere" erschienen.
Ein "Büchlein" bestehend aus 3 Texten:
Ein guter Lapp in Unterjoch
Unter die Erde
Miserere Melancholia
Das Kernstück des vorliegenden Buches bildet "Miserere Melancholia". Der Text war eine Auftragsarbeit und wurde im Rahmen der Tiroler Volksschauspiele Telfs aufgeführt; eine intensive Beschäftigung mit der Todsünde der Trägheit wurde angestoßen.
Die Auseinandersetzung mit der Trägheit und der Melancholie - dem Schwermut - öffnet einen religiösen Kontext, der im Titelbild des Werkes zu erkennen ist.
Matthias Grünewald schuf den Isenheimer Altar im 16. Jahrhundert; das dritte Wandelbild erzählt von den Versuchungen des heiligen Antonius in der Einsiedelei, dem Angriff der Dämonen; im Hintergrund die bewaffnete Engelschar, die den Kampf gegen die Dämonen aufnimmt ...
Der gute Lapp in seiner Funktion als Hochzeitslader, ein Amt, das seine Familie seit Generationen bekleidet, "... versucht sich seine eigene Biografie einzuzementieren. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem der Beton flüssig ist."
Helena Adler verwendet eine Sprache, die ein kurz aufflammendes Schmunzeln erlaubt, um es im nächsten Satz wieder verstummen zu lassen.
"Wenn er da ist, preisen sie ihn einen Lapp, sobald er aber um die Ecke biegt, schimpfen sie ihn einen Lapp."
Der Lapp hält inne und dieses Innehalten ist eine Aufforderung an die "Welt" zu verstehen, innezuhalten. Kurz nach dem Aufflammen von Corona gab es dieses Innehalten, um dann umso grausamer, schneller und brutaler die bisherige Lebensweise-Fahrt wieder aufzunehmen.
Miserere - Erbarme dich.
Melancholia - Trägheit.
Im liturgischen Kontext eine der sieben Todsünden.
Die Autorin begibt sich dorthin, wo man(n)/frau freiwillig nicht hinsieht; weit hinein in die abgrundtiefen Schlünde, in die Tiefenkammern des Seins. Es tut weh dort, es ist lebensbedrohlich und es ist das Leben.
Helena Adler beschreibt so faszinierend genau. So ein Ringen um das Leben und den Tod; Krankheit und Gesundheit, Depression und Lebensfreude.
Ich brauche lange, um den kurzen Text zu lesen. So sehr nimmt er mich in Anspruch. Halte inne, um eigenes zu betrachten, welches so sicher versteckt ist.
Dann wurde er ein dicker Wälzer, der mich zu einem Tanz einlädt, wo Schwindel und Absturz drohen, losgelassen von der Lebenshand.
"Mit dir werde ich dem Zugrundegehen noch auf den Grund gehen, dachte ich damals, dabei ging ich auf den Leim.", beschreibt die Autorin auf Seite 38 diesen Höllenritt.
Ein Zwischengedanke, derer einige noch folgen werden, stoppt das Wüten in mir: Wieso die Trägheit eine Todsünde sein mag, erschließt sich mir nicht. Die Trägheit ist die einzige Konstante für ein erträgliches Leben.
Der "Gnom" als einer der Verführer in seine Welt, als Dämon ...
"Nicht gelungen. Durchgefallen. Wir sind alle Gescheiterte. Ein alter, verrotteter Scheiterhaufen. Wenn wir sterben, scheitern wir am Leben. Wären wir unsterblich, scheiterten wir am Tod."
Bleibt auf die rettende Engelsschar zu hoffen, wo sich der Dämon in Licht auflösen mag.
Dazwischen fällt mir Cartarescu's "Melancholia" ein, welches ebenso aus 3 Teilen besteht.
Versuche es, in einem meiner Bücherregale zu finden, dort wo die Signierten stehen, um eine Ablenkung zu finden, die mich wieder mit dem Profanen des Tages verbindet.
Ein sehr starkes Stück Literatur, welches noch lange nachhallt.
Helena Adler im Kampf um Alles:
"Ich? Dein Wirt. Scher dich ins Wirtshaus, aber schleich dich aus meiner Stube!"
Unbedingte Leseempfehlung.
HELENA ADLER. MISERERE. Jung & Jung, 2024. ISBN 978-3-99027-407-1