"Wien, 1926: Hunderte warten im Schneetreiben vor den Arbeitsämtern, bei Protesten fallen Schüsse, und schwangere Frauen pilgern heimlich zu einem schäbigen Zinshaus in der Troststraße, um die Dienste einer gewissen Frau Tóth in Anspruch zu nehmen. Diese ist Pflegemutter der achtjährigen Luzia, eines schüchternen Mädchens, das inmitten all jener Unruhen anfängt, nach dem Verbleib ihrer leiblichen Mutter zu fragen. Als die Mutter aber nichts von ihr wissen will, schickt man Luzia als Dienstkind zu Bauern in die Bucklige Welt, wo sie zunächst alleine ihren Weg bestreiten muss.
Ein Roman über ein ungewolltes Kind in einem ungewollten Land, über Hoffnung in finsteren Zeiten und die Suche nach Zugehörigkeit."
So der Verlagstext.
Daniel Stögerer, Jahrgang 1997, verbrachte seine ersten Lebensjahre in Hochneukirchen in der Buckligen Welt, wo auch sein Roman "Luzia" zur Hälfte spielt. Er wuchs im Südburgenland auf und lebt heute in Wien und Festenburg. Sein Brotberuf, die Krankenpflege, ermöglicht ihm tagtäglich den Austausch mit Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, und seine Texte entstehen oft als Resultat seiner Einblicke in verschiedenste Lebenswelten. 2023 erschien sein Erzählband "So ein Mensch" ebenso in der edition keiper.
Und nun ist der erste Roman des Jungautors erschienen.
Daniel Stögerer hat einige "Geschichten" bereits in DUM - Das Ultimative Magazin veröffentlicht und da beeindruckte mich schon die Empathie und die klare und nachvollziehbare Sprachmelodie des Autors.
Das Thema des Romans, die Zwischenkriegszeit, packte mich nicht sogleich; die Hitzezeit machte es mir nicht leichter; und doch, als ich eintauchte, konnte ich nicht mehr auftauchen, ohne vorher zu Ende zu lesen ... und das Buch zum Abschluss noch in den Händen zu halten.
Der erste Teil spielt in Wien, hauptsächlich in der Troststraße. Eine politisch hoch brisante Zeit, der Brand des Justizpalastes, die Schutzbündler, die Heimwehr. Luzia erlebt sie mit ...
Der zweite Teil dann ab 1933 in der Buckligen Welt in einem Dorf auf einem Bauernhof, wo sich die Heimaten von Luzia und dem Autor treffen mögen.
In die Zeit gefallen
So als ob Daniel Stögerer als stiller Beobachter im Zinshaus in den 1920-iger Jahren säße und sich dazwischen Notizen macht.
Das "Dazwischen" ist unter anderem die großartige Mischung, die den schmalen Band ausmacht.
Die Zeitenräume werden mit "Wahrheiten" belegt. Die Arbeiterpartei, Zitat eines Wiener Liedes, die Beschreibung eines Ausfluges in den Böhmischen Prater, ein Abriss aus der Wiener Zeitung über die Arbeitslosigkeit, ...
Luzia, des Autors Urgroßmutter, ist in die Zeit gefallen und er lässt sie durch die Alltagsstrukturen, die das "Damals" beherrschten, hindurch gleiten.
Ein hoch emotionales Buch; man erkennt, der Autor ist sehr nah dran an den "handelnden Personen". Und er hat das nötige Einfühlungsvermögen in die Zeit und in die Menschen in ihrem Dasein.
Luzia, auf der Suche nach ihrer richtigen Mutter; Frau Toth die Engelmacherin, diese mutige Frau; Herr Liszt, der Untermieter in einer Wohnung, die aus einem Raum besteht.
Und er verwendet längst vergessene oder nicht mehr verwendete Wörter:
Trottoir, Abortgeruch, Findelkind, Kredenz, Lavoir ...
Dazwischen was zum Schmunzeln, um die Wucht ein wenig herauszunehmen:
"Dort las er auch jeden Tag, wie jetzt gerade, die Arbeiter-Zeitung. Luzia fand das eigenartig, weil er ja arbeitslos war."
"Währenddessen bestaunte er Luzias neue Stricksocken und fragte, was sie in der Schule gerade lernte. Stolz erklärte sie, dass Österreich vom Himmel aus wie ein Scherbenhaufen ausschaue, und wunderte sich über das Gelächter ihres Onkels."
Lesen Sie das Buch und gehen Sie mit auf eine Zeithistorie, die selten so einleuchtend und menschennah geschrieben wurde.
DANIEL STÖGERER. LUZIA - KINDHEIT ZWISCHEN ZWEI KRIEGEN. edition keiper. 2024. ISBN 978-3-903575-24-0