Es wird hier eine Ausnahme gemacht. Beim folgenden Roman handelt es sich nicht um die normalerweise an dieser Stelle vorgestellte neue deutschsprachige Literatur, sondern um eine nach mehr als 30 Jahren wieder erhältliche Übersetzung aus dem Englischen: J. G. Ballards Klassiker "Liebe & Napalm". Dieser kontroverse Text, der seinem Originaltitel "The Atrocity Exhibition" alle Ehre macht, hat trotz seines Entstehungszeitraums kaum an Aktualität eingebüßt, vielmehr scheinen die von ihm aufgeworfenen Fragen wichtiger - und auch aktueller - denn je. Ballards wegweisendes Romanexperiment ist eine formal wie inhaltlich anspruchsvolle tour de force. In einer Vielzahl literarischer Miniaturkapitel setzt sich der britische Autor - der mit Büchern wie "Crash" oder "Empire of the Sun" internationalen Ruhm erlangte - anhand einer überaus unvertrauenswürdigen Hauptfigur mit den zentralen Themen der westlichen Gesellschaft auseinander: Ein Arzt an einer psychiatrischen Klinik in London entdeckt nach und nach sein gestörtes Verhältnis zu seinem Beruf, seiner Umwelt und seinen Patienten.
Anhand des Zerfalls der Hauptperson wird die Brüchigkeit der von Grausamkeiten durchzogenen Geschichte des 20. Jahrhunderts deutlich. Die Fragmentierung des unglaubwürdigen Erzählers wird nicht nur durch die Formalstrukturen und Verfremdungen gestützt, sondern vor allem auch durch die permanente Befragung von Technikbezug und der Normierungsstrategien des Körperlichen. Der Körper wird bei Ballard auch zum Austragungsort, zu einem Objekt der Begierde, dessen Natürlichkeit zumindest in Teilen überwunden werden soll. Ballards einzigartiges Werk ist der pathologische Befund einer kollektiven Psyche, eine unangenehm direkte Auseinandersetzung mit den düstersten Ecken der Gesellschaft. Als zweiter Band der Buchreihe "exquisite corpse" liegt damit ein Werk vor, das immer noch als eine gnadenlose Abrechnung mit dem Verschalten von Krieg und Sexualität, konservativer (Kultur)Politik und den normierenden Aspekten der Biopolitik funktioniert.
Wie schön ist die "schene Leich"?
Die im Milena Verlag seit dem Frühjahrsprogramm 2008 erscheinende Reihe "exquisite corpse - Schriften zu Ästhetik, Intermedialität und Moderne" hat die konsequente Auseinandersetzung mit ästhetischen und politischen Fragen zum Ziel. Jedes Jahr wird die Buchreihe, die mit Unterstützung eines disziplinenübergreifenden beratenden Boards programmiert wird, um zwei Titel anwachsen; für 2009 sind eine Neuausgabe von John Gardners Klassiker "Grendel" und die Übersetzung von Toby Barlows poetischem Kultbuch "Sharp Teeth" geplant.
In Wien ist man sich bekanntlich schon länger der Faszination einer "schenen Leich" bewusst. Was aber versteht unsere globalisierte Gesellschaft darunter? Sind Leichen per se nicht mehr oder eben wieder besonders schön? Wo endet der natürliche Körper, wo fängt der künstliche an? Inwiefern befindet die Popkultur das Phänomen der Vergänglichkeit als unangenehme Bedrohung oder als Chance? Welche Bilder des Monströsen stellen wir uns selbst zur Verfügung? Durch diese Reihe wurde ein publizistischer Raum geschaffen, der die Aktualisierung als auch Formulierung von ästhetischen und politischen Fragestellungen erlaubt. Sowohl wissenschaftliche Werke als auch ausgewählte Primärliteratur werden gleichermaßen sorgfältig ediert wie auch leistbar gestaltet. Wie der Name schon zeigt, werden hier Sensibilisierung und Dokumentation verbunden. "Exquisite" steht nicht für kanonische Arroganz der Hochkultur, sondern maximal für deren Dekadenz. Eigentlich bezeichnet es aber die Feinheit und Fragilität unseres Daseins in all seinen Formen. Texte und Körper, unterschiedlichste Textkörper werden wieder, erneut und weitergelesen.
JAMES G. BALLARD, LIEBE & NAPALM - THE ATROCITY EXHIBITION (EXQUISITE CORPSE - Schriften zu Ästhetik, Intermedialität und Moderne 2, Wien: Milena Verlag 2008, ISBN 978-3-85286-166-1)