KREIDE

Autor*in: ROBERT KRANER
REZENSION: Wolfgang Kühn
Bücher gibt es wie Sand am Meer. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht mindestens eine Rezensionsanfrage an die Redaktion herangetragen wird. Einerseits schön das Interesse, andererseits schade, dass viele Bücher, die durchaus eine Besprechung wert gewesen wären, aus Zeit- und noch mehr Platzmangel auf der Strecke bleiben müssen.

Umso glücklicher ist der Rezensent, dass es der vorliegende Roman geschafft hat - zum einen, weil der Autor, Robert Kraner, mit der von ihm gegründeten schreibwerkstatt langschlag wurzelhof (heute schreibwerkstatt waldviertel) eine gewichtige Rolle in der niederösterreichischen Literaturlandschaft spielt, und man gleichzeitig weiß, dass genau jene, die sich für andere einsetzen, oft selbst auf der Strecke bleiben, zum anderen, weil das Buch einfach ein gutes Stück Literatur ist, das es verdient, empfohlen zu werden.

Landwirtschaftskommune "Arche"

Der Roman ist zeitgeschichtlich hochaktuell - Flüchtlingsströme, Rechtspopulisten an der Macht, steigende Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft, die Welt ist speziell seit 2015 eine andere geworden, das ist auch an der Insel der Seligen nicht spurlos vorüber gegangen. Die Protagonistin Mia, eine politisch engagierte Mitarbeiterin der Landwirtschaftskommune "Arche" stößt durch Zufall auf ein Waffenlager der neurechten Bewegung "Parade X". Die verständigte Polizei hebt das Lager aus, trotz äußerster Verschwiegenheit sickert Mias Name jedoch bis zur "Parade X" durch. Mia, die wegen Meinungsverschiedenheiten infolge mehrfacher Kompetenzüberschreitungen eine Versammlung der Arche in Unfrieden verlassen hat, wird bei einer Akademikerball-Demo von Handlangern der "Parade X" entführt und in einen Keller gesperrt. Soweit der erste, mit "Garten" übertitelte Teil des Buches.

Es entwickelt sich eine spannende Geschichte bis hin zur - so viel darf verraten werden - gewaltsamen Befreiung der entführten Aktivistin, doch es ist nicht nur die klug gesetzte Handlung des Romans, die den Rezensenten angesprochen hat, es sind vor allem auch die zwischenmenschlichen Töne und Gefühle, die der Autor perfekt trifft: Sei es bei der Beschreibung der unterschiedlichen Charaktere und Meinungen innerhalb der Arche, die in den meisten basisdemokratisch ähnlich orientierten Gruppierungen unweigerlich zu Kompetenzstreitigkeiten und in weiterer Folge zu Zerwürfnissen führen, sei es bei der Gegenüberstellung des verderbten Personals der "Parade X", die früher oder später ebenfalls zum Scheitern verurteilt ist, oder sei es bei der Schilderung der Seelenlebens der Protagonistin, sowohl während der dreimonatigen Gefangenschaft, als auch danach, auf der verzweifelten Suche zurück ins Leben.

Der starke Sog dieser Beschreibungen lässt das politische Erdbeben, das die Befreiung Mias auslöst, in den Hintergrund treten, das Schicksal der einzelnen steht über dem großen Ganzen. Der Rezensent hat den Roman (gerne) zweimal gelesen. Das erste Mal aus Neugier, das zweite Mal, etwa acht Monate später, um darüber zu schreiben - beide Male ein großes Lesevergnügen!
Fazit: Mindestens einmal lesen und weiter empfehlen!

ROBERT KRANER. KREIDE. Drava Verlag. 2021. ISBN 978-3-85435-964-7