JOURNAL
TAGEBUCH IN ZEITEN DER PANDEMIE

Autorin: CAROLIN EMCKE
REZENSION: Martin Heidl
"Friedenspreis-Trägerin Carolin Emcke denkt in diesem persönlich-politischen Journal über das Ausnahme-Jahr 2020 nach.
Am 22. März 2020 beschließen Bund und Länder »Kontaktbeschränkungen« - die neue Wirklichkeit der Pandemie greift ein in unsere psychische, soziale, politische Verfassung. Am Tag darauf beginnt Carolin Emcke mit ihrem »Journal«. Sie notiert nächtliche Albträume oder die unmöglichen Abschiede von geliebten Menschen so wie sie die nationalistischen Reflexe Europas und die autoritäre Verführung des Virus analysiert. Es sind subjektive, philosophische Notizen, die dieser historischen Zäsur nachspüren. Immer wieder widersetzt sich Carolin Emcke der Neigung, nur die eigene Stadt oder Region zu betrachten, immer wieder weitet sie den Fokus, reflektiert die Pandemie als globale Konstellation."

Soweit der Verlagstext ...; gestolpert bin ich das erste Mal über Carolin Emcke bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2016. Sie hielt eine flammende Rede "Gegen den Hass". 2016 ahnten "wir" noch nicht, was "uns" im März 2020 widerfahren wird - Corona löst den ersten Lockdown aus; ein Stillstand in jeglicher Hinsicht beginnt und neue andere Alltagsmuster werden installiert und inszeniert, um das Leben leben zu können.

Corona ist überall

Und es wird viel geschrieben; wer schreibt nicht ein Tagebuch mit Aufzeichnungen seiner selbst und der Umgebung. Carolin Emcke hat auch eines geschrieben; ein Journal - mit einem handschriftlichem Zug, in weißen Untergrund gehalten, schmückt das sonst in schwarz geformte Buch; beinahe wie ein Moleskine-Reisebuch sieht es aus. Wir begeben uns auch auf eine Reise, und jeder(e) kann mit, denn Corona ist überall.

Beinahe jedem Tag wohnt ein Zitat inne. Beginnend mit Leonce und Lena von Georg Büchner, irgendwann gefolgt von Pablo Neruda: "Die Erde lebt leise nun/gelinder ist ihr Verhör/ausgebreitet das Fell ihres Schweigens." Nun der Stillstand hielt nicht lange an; über ein Jahr ist vergangen und "wir" befinden uns immer noch im Sog der Pandemie. Permanent werden Öffnungsschritte - ich verfolge diese nicht mehr allzu genau - versucht.

Carolin Emcke - das Durcharbeiten des Buches fällt mir diesmal schwerer, da es kein Roman ist, sondern eben ein Tagebuch, und das fordert viel von der Leserschaft. Jeden Tag Corona - quasi - und das im eigenen Wohnzimmer. Und ich bekomme einen Einblick in die Welt, Gedankenreisen mit Nachhall; zum Beispiel, dass Urlauberinnen und Urlauber ausgeflogen werden, die unbegleiteten Kinder allerdings bleiben in den Zeltlagern zurück, bis heute, da politische Zahlenspiele wichtiger sind und besser zu verkaufen.

Heruntergeschraubte Erwartungen

" ... wir haben die Erwartungen an uns selbst, wer wir sein wollen und können, so heruntergeschraubt, dass wir nicht einmal mehr spüren, wie wir versagen."

Dazwischen bekommen wir Tipps zum Lesen:
Frank Witzel's "Inniger Schiffbruch" oder "Die Jahre" von Annie Ernaux oder "Nach dem Gedächtnis" von Maria Stepanova.
Ich breche zum nächsten Tag auf, der laut Emcke, kein fröhlicher ist.
"Ich schreibe mit einem Tag Verzögerung. Gestern konnte ich nicht. Gestern war bloß stumme Lähmung."
Wie lange erlauben wir uns das Nicht Können noch?

Und dann kommt ein Aufruf, dem ich mich nicht verschließen kann und ja, ich versuche es auch wieder:
"... jede Woche, mindestens einmal, sich etwas vorzunehmen, das einen wieder auffüllt, jede Woche mit jemandem oder für jemanden etwas Übermütiges, Herzerwärmendes, Albernes, Aufregendes, Beglückendes zu tun. Ganz gleich wie viel Kraft es kostet, es gibt Kraft."

Und noch viel mehr ist aus dem Journal zu lesen in jeglicher Hinsicht; in jeglicher Hinsicht ein lesenswertes, anregendes, humanistisches, perspektivenreiches Buch.

CAROLIN EMCKE. JOURNAL. TAGEBUCH IN ZEITEN DER PANDEMIE. S. Fischer. 2021. ISBN 978-3-10-397094-4