Jimmy Brainless - eine neue Stimme in der vielfältigen österreichischen Literaturlandschaft. Der Klappentext verrät uns einen 1990 in Wien geborenen Musiker und Autor mit taiwanesischen Wurzeln, der soeben sein Romandebüt abgeliefert hat.
Und diese taiwanesischen Wurzeln stehen auch im Mittelpunkt dieses knapp 330 Seiten - im doppelten Sinn des Wortes - "starken" Romans. Der Ich-Erzähler Simon, der wie der Autor in Wien geboren wurde, stellt uns seine Familie vor, hauptsächlich den taiwanesischen Teil davon, seine Mutter, ihre beiden Brüder Hán-Jié und Hán-Chún sowie ihre Mutter Amá und ihren Vater Yéyé, einen pensionierten Schuldirektor.
Gleich zu Beginn des Romans lernen wir eine ganz eigene Marotte des Ich-Erzählers kennen, die uns den ganzen Roman hindurch begleitet. Denn jedes Mal, wenn der Himmel tränt und das Wasser nicht abrinnt, steh' ich über Pfützen gebeugt und versucht aus seiner Reflexion schlau zu werden. Und die Reflexionen der Pfütze verraten uns nach und nach mehr über Simons Familie.
Rückblickendes Springen
Der Roman, so viel darf verraten werden, ist kein Roman im klassischen Sinn mit stringenter Handlung von Anfang bis Ende, sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von Geschichten, ein rückblickendes Springen zwischen Episoden und Schauplätzen, gespickt mit gelegentlichen Telefonaten des in Taiwan weilenden Ich-Erzählers mit seiner in Wien verbliebenen Schwester Lupida.
Doch dieses Fehlen einer durchgehenden Handlung wirkt überhaupt nicht störend, im Gegenteil, dieser Roman erzählt auch so unglaublich viel. Er ist ein literarischer Reiseführer in die Kultur Taiwans, die westliche Leser mitunter staunend bis kopfschüttelnd zurücklässt. Beispielsweise wenn die Pfütze verrät: "Töchter muss man anbringen, denn unverheiratet gelten sie als Schande, und sind sie mal verheiratet, nutzen sie der eigenen Familie nicht mehr, aber durchfüttern muss man sie bis dahin trotzdem. Besser wäre noch ein Sohn gewesen, denn der bleibt und kümmert sich um die Familie."
An mehreren Stellen im Buch wird der Aberglaube der Taiwanesen plastisch geschildert. So zum Beispiel dürfen Schwangere nicht im Haus sein, wenn Möbel geliefert werden, weil es Unglück bringen soll. Ebenso dürfen Schwangere nichts aufschneiden, weil es nämlich dazu führen könnte, dass das Baby eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte bekommt ...
Wir lernen, dass es in taiwanesischen Häusern selten einen vierten Stock gibt, in Bussen, Eisenbahnen oder Kinos häufig keine vierte Reihe - einfach, weil vier in Landessprache ähnlich klingt wie tot.
Urteile über Geschlecht
Teile des Romans spielen in Wien, wo Simons Mutter, die zum Musikstudium nach Österreich gekommen ist, seinen Vater (und dessen Familie) kennengelernt hat. Auch ihre Brüder leben eine Zeitlang in Wien, gleichsam zum Schutz der Schwester "nachgeschickt". Sehr amüsant die Probleme der Neuankömmlinge, die verständlicherweise so ihre Probleme mit der neuen Sprache haben, denn: Artikel sind nicht mehr nur Dinge zum Kaufen, nun stellen sie sich jedem Substantiv voran und urteilen über dessen Geschlecht.
Der Roman erzählt unter anderem auch die unterhaltsamen Lebensgeschichten von Simons Onkeln Hán-Jié und Hán-Chún, wobei letzterem der legendäre Hans Orsolic durchaus seinen Klassiker "Mei potschertes Leben" hätte widmen können.Großes Kino auch die Darstellung des Familienpatriarchen Yéyé und seine unglaubliche Sparsamkeit, die nicht selten Knausrigkeit bedeutet. Auf vierzig Seiten erzählt das Haus, in dem Yéyé lebt, über seinen Besitzer und seine liebenswürdige Verschrobenheit.
"Im Schein der Pfütze" ist ein Buch voller Entdeckungen, Jimmy Brainless versteht es mit seiner ganz eigenen Sprache zu verzaubern, ein Roman, den man nur ungern aus der Hand legt. Und zum Schluss die gute Nachricht: Teil 2 der Familiensaga ist in Vorbereitung und geht noch eine Generation weiter zurück!
JIMMY BRAINLESS. IM SCHEIN DER PFÜTZE. müry salzmann. 2024. ISBN
978-3-99014-257-8