ICH NANNTE IHN KRAWATTE

AUTORIN: MILENA MICHIKO FLAŠAR
REZENSION: Kathrin Kuna
"Ich nannte ihn Krawatte. Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen. Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten."
Mit diesen fünf Sätzen beginnt das neue, das dritte Buch von Milena Michiko Flašar. Es ist zugleich ihr erster Roman und die erste Publikation beim renommierten Berliner Wagenbach Verlag. Nur manchmal werden die Sätze länger, der Roman ist vom bereits bekannten kurzen und prägnanten Stil der Autorin geprägt. Die direkte Rede wird nicht durch Anführungszeichen markiert, sondern Erzählerstimme und die Erzählung der Protagonisten fließen ineinander. Jegliche sprachliche Schnörksel werden konsequent ausgespart. Sehr klar und gerade, ja aufrichtig wird erzählt. Gleichzeitig zeigen diese ersten Sätze aber schon die Weite der Geschichte und die Tiefe der Beziehung der beiden Hauptfiguren. Es geht um das ganze Leben. Um zwei ganze Leben.

Zwei Außenseiter begegnen sich auf einer Parkbank in Japan. Der Park befindet sich in einer anonymen Großstadt mit U-Bahnen und Häuserschluchten, die Protagonisten sind mit vielen namenlosen Gesichtern in der Menge konfrontiert, am meisten Überwindung kostet es sie allerdings sich den Gesichtern mit Namen, ihren Verwandten und engsten Vertrauten zuzuwenden, letztlich sich ihren eigenen Gesichtern zu stellen. Einander können sie sich langsam zuwenden und vertrauen, sich ihre Geschichten erzählen und die schwere Last der Geheimnisse teilen. Wie schwer Schuld wiegt und welche Einsamkeit hinter den meisten von uns verborgen liegt, zeigt dieser Roman. Ohne Kitsch, aber mit sehr viel Empathie und Liebe beschreibt Milena Michiko Flašar diese beiden japanischen Außenseiter. Der Hikikomori und der Salaryman sind zwei Personenbilder der japanischen Gesellschaft, die mit anderen Namen oder ohne konkrete Bezeichnung tausendfach auch in unserer, westlichen Gesellschaft zu finden sind. Und dort wie da würden sie ohne Mithilfe der Autorin nicht so schnell aufeinandertreffen. Man lernt Begriffe, Traditionen und alltägliche Besonderheiten der japanischen Gesellschaft kennen, mit der die Autorin selbst bestens vertraut und sehr verbunden ist. Den Verlag zeichnet aus, dass dieser besondere Text alle Aufmerksamkeit bekommen hat und am Ende ein Glossar hinzugefügt wurde, in dem man die japanischen Begriffe nachschlagen kann. So ist man sich als Leser immer der Spannung zwischen Fremdem und Vertrautem bewusst bzw. wird man sehr bewusst dafür sensibilisiert.

Gnadenlos ehrlich

Ich habe ungefähr ein halbes Jahr an diesen 140 Seiten gelesen. Es war nicht die Überwindung weiterzulesen, es war die Wucht der Geschichten und Nachrichten, die sich hinter diesem Text verbergen. Am Ende war es auch die Traurigkeit und die gnadenlos ehrliche, dabei in keinem Moment verurteilende Darstellung der Geschehnisse. Genau diese einfühlsame und gleichzeitig so unvoreingenommene Erzählweise zeichnen Flašar aus. Demut und Bescheidenheit, Reue und Vergebung, Ablehnung und Angst sind die großen Themen in "Ich nannte ihn Krawatte". Man wird klein und bescheiden beim Lesen. Vor allem geht es auch um die Fähigkeit sich dem Leben nach einer Krise wieder zu öffnen und alles wahrnehmen zu können. Flašar gibt ihren Figuren die Möglichkeit sich zu zeigen, sie stellt sie nicht bloß. Am Ende zeigen ihre Geschichten auch, dass alles aus Liebe passiert. Auch die Verletzungen, die sich Hikikomori und Salaryman selbst oder anderen zufügen, passieren aus Liebe. Besonders geht das aus den Szenen zwischen Tetsu, dem Salaryman, und seinem früheren Klavierlehrer, der ihm zu einem "fühlenden Ohr" verhalf, hervor.

Schon sehr lange habe ich nicht mehr über mehrere Monate an einem Buch gelesen. Man legt es nicht einfach weg und nimmt die Lektüre zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf. Die Figuren sind plötzlich wie neue Bekannte bzw. entdeckt man ihre Ängste und Sorgen in alten Bekannten. Und in sich selbst. Die Schönheit, Weisheit und Ehrlichkeit des Textes lassen einen hoffen und glauben, dass Versöhnung am Ende möglich ist und auch öfter als man denkt wortlos und automatisch passiert. Gleichzeitig ist jene Intensität des Textes auch dafür verantwortlich, dass jede aufgebaute Illusion zwangsläufig zum Einstürzen gebracht wird.

MILENA MICHIKO FLAŠAR. ICH NANNTE IHN KRAWATTE. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin. 2012. ISBN 978 3 8031 3241 3