WAS WEISS MAN SCHON? WAS KANN MAN SCHON WISSEN?

Autor: GERHARD JASCHKE
REZENSION: Markus Köhle
Gerhard Jaschke ist Autor, Herausgeber sowie genereller Kunstkenner und -liebhaber. Seit den 1970er Jahren bietet seine Zeitschrift für Literatur und Kunst "Freibord" ein Forum für experimentelle Texte, für Wort- und Bildkunst. Er kann auf über 60 Einzeltitel verweisen, der aktuellste heißt "Geliehene Leben. Nachsätze (2020)" und folgt auf "Gemischte Freuden. Sätze (2018)", womit vermutlich bereits der Entstehungszeitraum umrissen ist: Nachsätze aus 2 Jahren, Nachsätze aus dem dritten, nicht letzten Lebensdrittel.

Diese Nachsätze sind alphabetisch geordnete: von A wie "Abgespeist" bis Z wie "Zwutschkerln Zwitschern". Sie sind zwei Zeilen bis drei-vier Seiten lang, meist aber Einseiter. Gerhard Jaschke betreibt in "Geliehene Leben" ein Anschreiben gegen die Gegenwart, gegen bürokratische und bauliche Hürden, gegen Ignoranz im künstlerischen und gesellschaftlichen Bereich und er macht das mit Humor, sprachlicher Gewitztheit, einer gesunden Portion Selbstironie, aber auch mit ungeschönter Drastik und immer mit großer Begeisterung für künstlerische Arbeiten im allgemeinen, den diversen Avantgarden im Besonderen und der Sparte Fluxus im Speziellen.

"Würde ich alles, das mir einfällt, aufschreiben, wüsste ich nicht wohin damit." (S. 19) Heißt es im Text BARE MÜNZE. Deshalb wird gestrichen und verdichtet und gefragt, ob was längst festgehalten nochmals betont werden soll? Es soll, es muss, es wird. In "Geliehene Leben" fragt und behandelt Jaschke viel. Er hinterfragt vor allem die Gegenwart, blickt aber zwischendurch auch eifrig zurück. Er resümiert und kritisiert, mal bitter böse, mal lakonisch selbstironisch, mal lautmalerisch verspielt und gerne auch assoziativ. Um Sprachbetrachtung und sprachliche Feinheiten geht es immer, mitunter auch um verhasste Wörter. Ich sag nur: "Umtriebig" (S. 34).

zernepft

Aber es geht natürlich um viel mehr, es geht um das lebenslange Sich-beweisen-Müssen, das endlich ein Ende hat. Wir erfahren, wie es sich anfühlt, mit dem Wort "situationselastisch" zu erwachen ein "bisschen zernepft" zu sein und wie es ist, wenn einem immer mehr Ichs überkommen. Schonungsloses über das Sterben in der Schweiz und das Leben und Sterben im Allgemeinen steht neben Fernsehprogramm-Analysen und Frankfurter-Buchmesse-Anekdoten. Auf Patientengeschichten folgen Gebrechlichkeitsgedichte, auf Aphorismen Grübeleien, auf Hommagen an Künstlerinnen und Künstler folgen große Fragen an das Universum: Was weiß man schon? Was kann man schon wissen?

Gerhard Jaschkes neues Buch enthält Nachsätze, die nachhallen, nachwirken, persönliche Nachhaltigkeitskriterien neu- und umschreiben. Nachsätze, die Lebensprotokollcharakter haben aber auch Entwicklungsgeschichte sind. Nachsätze, die auch einfach mal nur gut gesetzte Zitate sein können. Nachsätze, die einfach und unverkrampft Wesentliches auf den Punkt bringen wie: "Ein Hupkonzert erinnert daran noch zu leben." Nachsätze, die nicht viel voraussetzen, aber alles geben. Um es mit einem Gedicht aus "Gemischte Freuden" zusammenzufassen:

Alles zu seiner Zeit
Traurigkeit - Fröhlichkeit
über den Tellerrand hinaus
geht es endlich doch nach Haus


GERHARD JASCHKE. GELIEHENE LEBEN. Nachsätze. Ritter Verlag. 2020. ISBN 978-3-85415-614-7