"In ihrem Freijahr kommt Anne ins Straucheln. Statt sich dem eigenen Klavierspiel zu widmen und an einem Lehrbuch zu schreiben, lösen sich ihre üblichen Gewohnheiten nach und nach auf. In den Nächten hält sie ihre Beobachtungen in einem Notizheft fest und untertags streift sie durch die Stadt. Diese Wanderungen führen sie bald über das ihr Bekannte hinaus.
Seit zwanzig Jahren lebt Anne mit Thomas in der gemeinsamen Wohnung. Das Paar teilt viele Erinnerungen und weiß die Zeichen des anderen zu lesen. Sie fühlt sich in der Wohnung zunehmend unwohl und Thomas wird immer abwesender. Schon länger vermutet sie, dass er eine Affäre hat. Nun taucht das Mädchen, wie Anne die Unbekannte nennt, als huschender, wispernder Geist auf. Geräusche und Erscheinungen sind nicht mehr eindeutig zuordenbar. Laura Freudenthaler knüpft mit Geistergeschichte an ihren vielbeachteten Debütroman Die Königin schweigt an. Ihr gelingt das Kunststück der Gegenwärtigkeit. Man wird regelrecht in Annes Wahrnehmung hinüberverführt. Immer tiefer folgen wir ihr in eine Welt der Spiegelungen und doppelten Böden, in der Wirklichkeit und Vorstellung ineinanderfließen.
Über gewisse Dinge spricht man nicht
Der Roman hat eingeschlagen, so scheint es; Platz 1 in der ORF-Bestenliste im März 2019 und eine Nominierung für den EU-Preis aufstrebender AutorInnen aus Österreich. Die Verkündung erfolgt am 22. Mai 2019. Die schönen schwarzen Karten aus dem Droschl-Verlag, den Büchern beigefügt, verlauten diesmal folgendes: "Über gewisse Dinge spricht man nicht".
Und damit nähern wir uns bereits der Geistergeschichte an. In Schwarz auch verhüllt das schmale Buch, verziert mit weißer Schriftfarbe, durchzogen von einem blauen Himmelsstreifen ... "Wenn man nicht außergewöhnlich begabt sei, bleibe einem nur die Disziplin", sagt Anne beim Klavierspielen.
Und die geht der Protagonistin immer mehr verloren; der "normale" Alltag entgleitet zunehmend und sie driftet ab in eine Geisterwelt, wo nichts mehr so zu sein scheint, wie es mal gewesen ist. Schnappschüsse von Befindlichkeiten, Erinnerungsfetzen tauchen auf und wieder ab, das Unbehagen greift um sich. Das Kaffeehaussitzen vormittags, mit einem Notizheft ausgerüstet, scheint zunächst stimmungsvoll zu sein, wird jedoch mehr und mehr zu einem alltäglichen Muss, um der Einsamkeit zu entgehen. Der Kontakt zu Thomas bricht immer mehr ab; wird bloß durch die Rechnungen und Zettel, die er in seinen Jacken sammelt, hergestellt. Anne zerpflückt diese und kann so ein wenig seinen Alltag nachvollziehen oder bloß ihre eigene Sichtweise erfinden. Was ist mit der Beziehung zu Thomas? Gibt es die noch? Hat es sie überhaupt jemals gegeben? Wer ist das Mädchen, welches mal da mal dort ist? Ist das Mädchen Anne selbst?
Untertauchen statt schwimmen
Laura Freudenthaler entführt die Leserschaft in eine Welt, die alles und auch nichts zulässt; es kann sein, muss aber nicht. Der Alltag verschwimmt. Anne verliert durch das Freijahr eben diesen; Anne geht nicht mehr schwimmen, sondern taucht unter - sozusagen. "Die Töne des Tages sind in ihrem Körper, Anne spürt sie als Unruhe in den Schultern. Wieder und wieder gespielte und abgebrochene Melodien, verkehrt betonte Takte und unsaubere Anschläge stehen in ihr herum." Sätze wie dieser, ziehen mich als Leser hinein in den Strudel von Anne's Dasein ...
Lassen Sie sich auf die Geistergeschichte ein und Sie können durch den Tag und die Nacht gleiten; so manches Mal bin ich beim Lesen mal abgetaucht, da die Bilder zu verschwommen waren, zu flüchtig waren. "Sie löse sich auf in einem Zwischenraum." Die Zwischenräume des Lebens zu befüllen und / oder diese als solche anzunehmen, könnte eine der Botschaften des Buches sein, die wir ihm entnehmen.
Eine sehr poetische und bildhafte Reise mit Anne, um dann wieder in der eigenen Welt aufzuwachen. Am Schluss ein Hoffnungsschimmer; das Haus am See; Anne wird früher fahren ...; allein ich glaube es nicht, dass es besser wird. Und bleibe in meiner eigenen Leserealität zurück. Dazu habe ich eine inspirierende Zeit mit "Anne" verbracht.
LAURA FREUDENTHALER. GEISTERGESCHICHTE. Roman. Droschl. 2019. ISBN 978-3-990-59025-6