DIE FRAU AUF MEINER SCHULTER

AUTORIN: ANDREA WINKLER
REZENSION: Martin Heidl
"Ein Dorf an einem Fluss, eine Ruine, ein paarmal am Tag hält die Lokalbahn. Für Martha der Rückzugsort, um nach einer Reihe von Schicksalsschlägen wieder zu sich zu finden, zur Ruhe zu kommen. Zu vieles ist geschehen, als dass Martha weitermachen könnte wie bisher. Nach und nach - vom Winter bis zum Sommerbeginn - gelingt es ihr, sich dem Dorf gegenüber zu öffnen. "Ich gehe hier nicht schlafen, ohne noch wenigstens einen Augenblick zum Friedhof zu schauen. Seine Nähe beruhigt mich."

Eigentlich sollte man(n)/frau das Buch ja zwischen Jänner und Juli lesen, da in diesem Zeitraum, genau genommen vom 3. Jänner bis 17. Juli, dieses Buch spielt. Und genau das ist mir nicht gelungen; also wurde es Oktober, obwohl die Jahreszeiten sich verwischen und vermischen in noch nie gekannter Weise. Dem Klimawandel sei es geschuldet ... Der gestrige 14.Oktober zum Beispiel war von ausgesuchter sonniger Freundlichkeit, der Wind dazu nicht.

Ich gestattete mir, das Buch im Kampbad Langenlois zu lesen - auf einer Parkbank direkt am Kamp; und zugleich zog es mich hinein in die Zeilen der Träume und Tagesfluchten. "Vor der Barke unter der Linde aber blieb ich stehen - ein Stoß nur, und die Reise hinüber fängt an."

Film läuft

Und in mir begann ein Film zu laufen, der den Kamp entlang fließt; vorbei am geschlossenem und zusehends verfallenen Hotel Blauensteiner, den verlassenen Bahnhöfen, der Ruine mit der Tribüne in Gars, der Kuranstalt mit den einladenden Liegestühlen. Glücklicherweise ist die Barke, die mein Auge erspäht, gut festgebunden am Ufer und daher gefahrlos außer Acht zu lassen. Somit steht dem Abenteuer mit der Autorin zu reisen, nichts mehr im Wege; außer vielleicht ich mir selber ...

Das Coverfoto ziert eine Wohnzimmerschreibtischstimmung in Plüsch gehalten, die von Einsamkeit nur so trotzt; doch das Buch ist nicht einsam. Die Protagonistin Martha anfangs schon. Das Dorf erschließt sich ihr und öffnet sich zusehends, so dass wo zuvor eine Vielfalt des Nichts sich breit machte, eine Vielfalt von Menschen in ihr Leben tritt.

"Nein. Friedrich ist tot und hat sein Haus zu sehr geringer Miete Menschen überlassen, die nichts Besseres zu tun haben, als die Tage vergehen zu lassen, ohne sich durch besondere Werke in ihren Lauf zu mischen."

Aus der Zeit gefallen sind die Beschriebenen allesamt; sie haben zwar mit den herkömmlichen Alltagsproblemen so ihre liebe Not - Jobsuche, Sinnsuche, Aufenthaltsbewilligung, ... - bloß das Haus verlangt ein gewisses Tempo und Innehalten, um das Leben von einer Seite kennenzulernen, die es für alle, die dies zulassen mögen, Zufälligkeiten bereitet. Zufälligkeiten, die das "Jetzt" bereichern.

Das Nichts beschreiben

Dies gelingt Andrea Winkler famos. Das Nichts in ihrer Vielfalt zu beschreiben und damit die Möglichkeiten des Seins hautnah zu erleben. Nichts mehr als auf das, was da kommt, einlassen, ohne es zu hinterfragen. Wer die Zeit und die Muße hat das Büchlein zu lesen, sollte es tun.

Auch wenn gegen die Mitte hin so manche Leerstellen sind - insbesondere mit den Träumen habe ich mir schwer getan - wird die Leserschaft mit wunderbaren Geschichten, wie mit dem Auftritt des Zirkusclowns belohnt oder mit der Ansichtskarte aus vergangenen Tagen, die das Haus bereit hält und am Schreibtisch weiterlebt. Oder der "Sensenmann" als der letzte "Fahrende" im Land. Ein Einblick in die gute alte Zeit, die niemals gut war, nur anders.

Sprachlich gekonnt und mit poetischer Leichtigkeit erzählt - wir reisen einige Monate mit Andrea Winkler und ihren ProtagonistInnen durch ihr Leben.

Ich werde mal wieder ins Kamptal fahren, den Liegestuhl neben der Kuranstalt aufsuchen und dem Wasser beim Fließen zusehen ... , vielleicht setzt sich ein Kurgast neben mich und erzählt mir seine Geschichte.

ANDREA WINKLER. DIE FRAU AUF MEINER SCHULTER. Zsolnay. 2018. ISBN 978-3-552-05904-7