Ich gebe es zu, ich hatte Angst. Zum Fürchten, was man da im Vorfeld vermittelt bekam und dann schaut der Autor auf dem Foto auch noch so grimmig. Ach, hätte ich doch bloß die Rezensionen der Kolleginnen und Kollegen nicht gelesen. Jetzt fühle ich mich auf einmal verpflichtet, das Buch auch schwierig zu finden, beziehungsweise darauf hin zu weisen, dass es die Kritik vorwiegend als schwieriges Werk tituliert hat. Schwierig!? Dann schaut doch fern! Nur weil sich der Inhalt nicht so einfach nacherzählen lässt und man nicht auf vertraute Sprachbilder und bewährte formale Herangehensweisen stößt, ist das doch nicht gleich schwierig. Ist Anders immer gleich schwierig? Der Schwierig-Stempel für ein Buch ist so etwas wie die FSK ab 18 Jahren für einen Kinderfilm. Nein, Das Fenster ist natürlich alles andere als ein Kinderbuch, aber der Held erlaubt sich sehr wohl, die Unbeschwertheit eines Kindes zu haben, Fragen zu stellen und Bilder zu entwerfen, die man sonst momentan nirgendwo mehr findet. Richard Obermayr ist der, der "Der gefälschte Himmel" geschrieben hat. Das ist zwölf Jahre her. Jetzt aber lüftet Obermayr seine Poesiekammer wieder einmal. Das Fenster ist zu öffnen, zu lesen, zu haben und bei Jung und Jung erschienen.
Anfangs schlägt einem Vergänglichkeit entgegen. Der Sommer in dem sie das Leben verloren hat, schwebt in der Luft. "Aber wie soll man lügen", heißt es auf Seite 8 "wenn man die Wahrheit nicht kennt?" Wahrheitssuche und Erinnerungen bahnen sich Weg, die Vergangenheit schlingert in der Auslaufrille und es wird Auf-auf zum Gänsemarsch in die Wirklichkeit gerufen. Das ist nicht einfach. Nicht nur der Sommer hängt in der Luft, der Freitag, der 14. August 1979, sondern auch ein Schuss. Und das Warten auf das Einsetzen der Wirkung des Schusses ist eine Tortur. Derweil unterzeichnen die Vögel den Sommerhimmel, fließt die Zeit, begehren Erinnerungen auf und bisweilen werden aus Augenblicken Superzeitlupen. Überhaupt die Augenblicke. Ständig ist von diversen Augenblicken die Rede, wird die Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt und dann hebt sich plötzlich der Schutz der Zerstreutheit auf, und es machen sich Fragen breit: Was merkt sich das Leben alles? Was lebt nach dem Tod weiter? Das Leben will angetreten werden. Doch den Helden beschäftigen gewichtige, aufrichtige, verschobene und gereifte Augenblicke, die die Zeit stolpern lassen, alles verunsichern. Entgangene Augenblicke, die alles verändern. "Was geschieht mit solchen Augenblicken, für die die Welt keine Verwendung hat?" (S. 32) Für diese Augenblicke sucht Obermayr eine Sprache.
Problemlos weglesen
"Ich wollte hinein und dazu gehören." (S. 41) Aber die Geschichte wirft den Helden raus aus seiner Vergangenheit. Aus seiner Vergangenheit verstoßen, das stelle man sich mal vor! Das ist ein Sachverhalt, der nach einer ungewöhnlichen sprachlichen Umsetzung verlangt, der sich nur mit einer zu findenden Sprache ausdrücken lässt. Gehäuft treten Als-ob-als-würde-als-stünde-Formulierungen auf. Laufend müssen Vergleiche herangezogen werden, um das so noch nicht Bekannte darzustellen: "Immer noch wirkte diese Welt auf mich, als warte sie nur darauf, dass jemand die richtige Frage stellt und alle hier ruhenden Antworten zum Leben erweckt." (S. 44)
Der Held stößt nur noch auf seine Spuren, das Leben selbst ist ihm "entwischt". Er verschleppt Szenen und Beobachtungen in sein Leben, eignet sich Bilder an und besetzt sie für sich neu.
Nun aber mal höchste Zeit für ein längeres Zitat: "Etwas hindert sie [die Mutter] daran, dieses Leben zu leben, als dürfe sie nicht darauf zurückgreifen, als sei es zu kostbar und müsse für einen besonderen Anlass aufbewahrt werden. Niemals würde sie fertig sein, mit dem Anziehen des Mantels, in den ihr mein Vater hilft, eine Geste, die innen mit Beiläufigkeit gefüttert war, wie um seine Zuneigung zu bemänteln. (...) doch erst da sah ich, was ich alles beim ersten Mal, als ich diesen Weg ging, am Rand liegen lassen musste, um mit der Zeit Schritt zu halten, all die Dinge, die ich damals übersprang." (S. 80) So ein Satz lässt sich problemlos weglesen, er bietet sich aber auch an, zum Hängenbleiben und selbst Sinnieren und er ist überdies eine Leseanleitung für Das Fenster.
Kein Ich-steig-in-den-Zug-fahr-5-Stunden-und-les-ein-Buch-Buch
Ja, Daniela Strigl hat Recht, es wäre schade, das Buch in einem Satz durch zu lesen. Das hat mehrere Gründe. Es kreist um ein Thema, diese Umkreisungen unterscheiden sich sehr wohl, setzt man ab, hat man was davon, zieht man das Buch durch, entgehen einem die Nuancen. Wenn man gewillt ist, das Buch - und jetzt die grausame Formulierung - mit Gewinn - zu lesen, dann schnallt man das. Das Fenster ist kein Ich-steig-in-den-Zug-fahr-5-Stunden-und-les-ein-Buch-Buch, nein, das nicht. Das Fenster ist große Erinnerungsarbeit auch Erinnerungsartistik ohne Netz und doppeltem Boden. "Immer noch findet die Erinnerung etwas, greift tief hinein und holt etwas heraus, und ich wundere mich, so etwas in mir zu haben, von dem ich nichts wusste und bis dahin nichts fühlte." (S. 216/217)
Die Bereitschaft an diesem Projekt zu Scheitern ist bemerkenswert. Der Versuch etwas wirklich Eigenständiges zu machen, diese Möglichkeiten der Literatur auszuloten, niemanden direkt zu bedienen aber allen etwas vor den Latz zu knallen, lässt einen ehrfürchtig werden. Richard Obermayr löst einen Prosaschuss aus, lässt einen Romanschwall vom Stapel, der leidenschaftliche Leserinnen und Leser treffen muss, nein, soll, ja, wohl früher oder später treffen wird.
Wir sind allein mit der Geschichte
Und zum Schluss vielleicht eine Art Resümee: "Schließlich kam es mir so vor, als sei alles, von dem wir meinten, es sei in unserem Leben einmal wichtig gewesen, wie zu einer langen bizarren Stunde verklumpt, in der sich die namenlose Intimität sämtlicher Erinnerungen und Gefühle befindet." (S. 195)
Auch in nicht reiner Zitatform: Richard Obermayr packt den Stier bei den Hörnern, stopft ihm das ganze Familienleben rein und näht ihn dann fein säuberlich und unerhört poetisch wieder zu.
Wobei es doch eigentlich so ist: "Wir sind allein mit der Geschichte, nachdem die, von denen sie handelte, aus ihr verschwunden sind." (S. 232)
Womit genug (aber natürlich nicht alles) über Das Fenster gesagt wäre.
RICHARD OBERMAYR. DAS FENSTER. Jung und Jung. 2010. ISBN 978-3-902497-70-3