VON VÖGELN UND ANDEREN MENSCHEN ODER DEN BIERSTRAHLEN BEIM ÖFFNEN DES KÜHLSCHRANKS

Autor*in: MARTIN PEICHL
REZENSION: Markus Köhle
"Es sind nur wir" heißt der neue Roman von Martin Peichl. Das sagt man, wenn man beschwichtigen will: Keine Sorge, es sind nur wir. Das sagt man, wenn man sich selbst nicht als den Mittelpunkt der Welt betrachtet, um seinen Stellenwert Bescheid weiß: Es sind nur wir, die da im Universum herumwuseln. An einer Stelle heißt es sogar: "Aber es sind nur wir. Die letzten Gäste." (S. 189) Und so könnte der Roman auch heißen: Die letzten Gäste. Die kommen sich selbst immer gut vor, aber die, die es mit ihnen zu tun haben, sie bewirten müssen, wünschten sie sich schon längst weg. Vermutlich geht es dem Planeten Erde so mit der Spezies Mensch. Womit wir mitten im Thema des Romans wären.

In "Es sind nur wir" geht es um das Gefühl kurz vor der jeweiligen Katastrophe und um Verlustgeschichten aller Art. Der Ich-Erzähler wird durch den Suizid des Schülers Paul aus der Bahn geworfen und verliert sich zunehmend. Er gibt seinen Job als Lehrer auf, um vermeintlich an einem Wörterbuch der Verluste zu arbeiten. In Wahrheit aber arbeitet er an der Auflösung seiner selbst und der Beseitigung seiner Existenzspuren. Noch sind diese aber da.

Noch gibt es da eine Sophia, mit der er so etwas wie eine Beziehung führt, nein, nicht führt: betreibt. Noch gibt es Freund Julian, mit dem er sich zum Biertrinken trifft. Es sind nur wir - es ist nur Bier, aber Bier mit Julian ist immerhin schlückchenweise Trost. Noch gibt es Pauls Mutter, mit der er die innere Leere wegzuficken versucht. Noch gibt es die Mutter des Ich-Erzählers, die ihrerseits langsam das Gedächtnis verliert, um die sich das sonst so sorglose Ich aber vorbildlich kümmert. Noch gibt es die mysteriöse Mascha mit der Füchsin an ihrer Seite, die dem persönlichen Auflösungsprozess des Ich-Erzählers eine Wendung verleiht. Ihn vielleicht sogar rettet?

Mehr in Gedanken

Jedenfalls ist Mascha vorbereitet auf das, was kommen könnte. Das namenlose Ich nimmt's wie's kommt, Hauptsache es muss nichts dagegen unternehmen, es wird das bedürftige Ich schon jemand aufnehmen, mitnehmen, sich seiner annehmen.

Dieser Mann mit spezifischen Eigenschaften ist mehr in Gedanken als in der Gegenwart. Dass das oft sehr schöne Gedanken sind, macht das Buch so lesenswert. Es strotzt vor Sätzen, die man unterstreichen will. Dass das mitunter skurrile Gedanken sind, macht das Buch so lustig. Es strotzt vor unnützem Wissen, das man sich merken will. Dass das Ich seine Gedanken zu einem einsamen Menschen machen, macht das Buch so traurig.
Ja, es geht also auch um Einsamkeit. Es geht um große Gefühle und auch darum, dass man eine poetische Natur und gleichzeitig apathisch sein kann. Denn das Sensorium alleine reicht noch nicht aus. Die Wahrnehmung dessen, was schief läuft, ist zu wenig. Es braucht schon auch Taten. Für Taten in die richtige Richtung fehlt es dem Ich an allem. Da ist es ein Scheiterhaufen.

Nur beim Sex handelt er entschlossen. Nur Sex freilich macht noch keine gute Beziehung. Nur bei seiner Arbeit für ein Videospiel steigert er sich übertrieben rein, da recherchiert er, will er alles wissen, wird sogar zum Birdwatcher. Das passt zum Ich. Es ist nämlich ein komischer (noch kein kaputter) Vogel. Komische Vögel mag man, solange man nicht direkt mit ihnen zu tun hat. Komische Vögel mag man auch, wenn man selbst ein komischer Vogel ist und weiß, wie man sich den neuen Vogel zurechtrupfen muss, um mit ihm klar zu kommen. Mascha ist gut im Zurechtrupfen.

Magic Mascha

Ob es gutgehen kann mit diesem Traummännlein und Magic Mascha? Ob dieses Ich diese Mascha verdient? Ob Trinkspiele tröstlicher sind als Romane? Ob Rituale das Gefühl von Heimat vermitteln oder vorgaukeln? Ob die Welt unter- oder übergeht? Ob es dem Ich gelingt, die Fürsorge, die er seiner Mutter angedeihen lässt, auch anderen Menschen zukommen zu lassen? Ob das eine zu lange Frage war? Ob sich diese Besprechung verliert? Ob sich der Roman und wenn ja, wohin verliert?

Viele Fragen, die hier offen bleiben sollen, aber eben neugierig machen wollen. Denn Fragen stellt sich der Ich-Erzähler auch viele. Er raucht, trinkt, denkt zu viel. Er braucht Schmerztabletten, so wie er Sex braucht. Er ist zwar kein ausgewiesener aber ein typischer Wiener: morbid, melancholisch und selbstmitleidig, aber dabei halt urlieb.

Das Ich ist verletzlich, schwach, fehlerhaft und liebenswert. Man kann sich in dieser Figur finden und sich auch gleich besser vorkommen. Das schafft Identifikationsgefühl und Erhabenheit. Wenn ein Buch das schafft, ist viel getan. Man will diesen Loser umarmen (quartalsmäßig), mit ihm Sternderl schauen (im August) und Biertrinken (im November), denn er hat keinen Dach- nur einen Poesieschaden und ein Poesieschaden lässt sich gemeinsam beheben und lässt sich gemeinsam auch leben. Ob das mit Mascha gelingt?

MARTIN PEICHL. ES SIND NUR WIR. Haymon. 2024. ISBN 978-3-7099-8235-8