Innsbruck in den Jahren 1932-1945. Im Mittelpunkt des Debüt-Romans von Andreas Pavlic steht ein Paar, das sich bei der sogenannten Höttinger Saalschlacht-Nacht kennengelernt hat: Annemarie und Johann. Johann startet mit vollem Lauf in die falsche Richtung in die Geschichte, landet aber immerhin in Annemaries Armen. Sie sind beide junge Sozialist*innen und wissen noch nicht viel von der Welt, haben aber Vorbilder, die ihnen vorleben, wie es gehen könnte. Im Gasthaus ist der allwissende Marinus anzutreffen, der zwar nicht so gut erklärt wie der Otto Bauer, aber jedenfalls weise ist und nie auf die Menschlichkeit vergisst. Annemarie wiederum hält sich an Thusnelda, eine Freundin aus Wien und überzeugte Kommunistin.
Anfang der 1930er Jahre ist das Leben noch relativ unbeschwert, es liegt zwar schon Braunes in der Luft, aber noch ist die Urbanität Innsbrucks zu genießen. Beim Tanzen gelingt Annemarie das am besten, da kann sie die Welt um sich vergessen, da hebt sie ab, da schwebt sie, da dreht sich alles ihr zu. Johann träumt von Amerika: Hollywood. Da könnten sie einen Tischler wie ihn sicher gebrauchen. Aber auch die Sowjetunion ist eine Möglichkeit. Dorthin geht Thusneldas Mann.
Noch steht ihnen die Welt offen, aber die historischen Entwicklungen, die politischen Umbrüche holen sie schneller ein, als sie sich vorstellen konnten und ans Auswandern ist nach längerer Arbeitslosigkeit auch nicht mehr zu denken. So bleiben sie halt, wo sie sind. Sie haben ja einander. Doch auch das hat ein Ende. Denn der Krieg reißt sie auseinander. Fronturlaube sind selten, die Feldpost anfangs noch mit Geschenken aus dem Osten, wird zunehmend trostloser und zum Teil sogar geschwärzt.
Dunkel
Ja, dunkel ist die Zeit, aber Annemarie hat Arbeit in der Heil- und Pflegeanstalt in Hall, ihr geht es ganz gut, solange sie nicht fragt, was es mit der kursierenden Liste, die von "Ballastexistenzen" spricht, auf sich hat. Aber selbst nach Innsbruck findet der Krieg in seiner grässlichsten Form und drängt die Bevölkerung in die Luftschutzkeller. In "Die Erinnerten" wird erzählt von Menschen, die in der NS-Zeit einfach nur überleben wollen, von konsequent Widerständigen, aber auch vom Nicht-wissen-Wollen, vom Nicht-Nachfragen und generell Nicht-drüber-Reden und den Schaden, das Letzteres anrichtet.
Die Kirche kommt in dieser Geschichte recht gut weg, die Wissenschaft weniger. Der Institutsleiter für Erb- und Rassenbiologie, der Herr Professor Friedrich, doziert über sein Lieblingsthema "Geistige Störung als Ursache der Entwurzelung von Wanderern" während Annemarie auf Kartoffelkäferjagd im Schrebergarten geht. Ja, der Professor Friedrich hat was übrig für die Annemarie und der Herr Professor wird dann auch ganz schnell die Fahnen wechseln und schon immer ein Oppositioneller gewesen sein. Annemarie ist da konkreter veranlagt. Aber das soll hier nicht verraten werden, das ist Teil des großartigen Schlusses dieses Buchs.
Erzählt werden Tage aus den Jahren 1932, 34, 39, 37, 41, 43 und 45 und der Erzähler ist der Sohn von Annemarie und Johann. Er hat sieben Auftritte, erläutert und spricht die Lesenden direkt an. Der Sohn erzählt die Geschichte seiner Eltern und seine Vorgeschichte anhand von persönlichen Fundstücken.
Engagiert und lesbar
Der Erzähler zeigt auf, er verurteilt nicht, er hat großes Verständnis für Schicksale in dieser Zeit. "Die Erinnerten" macht klar, dass es Möglichkeiten gab, sich anders zu verhalten, es macht ebenso klar, dass nicht alle die Entscheidungskraft dazu hatten und es führt eindrücklich vor Augen, wie wichtig es für alle ist, so bald wie möglich mit dem Aufräumen der eigenen Geschichte anzufangen. Andreas Pavlic hat mit "Die Erinnerten" engagierte Literatur im besten (weil für alle lesbaren) Sinn geschrieben. Hier wird nicht mit dem moralischen Zeigefinger herumgefuchtelt, hier werden wir an der Hand genommen und durch eine Lebensgeschichte geführt. Wir erfahren Neues, wir erfahren Wichtiges, wir kriegen eine Geschichte erzählt, die gleichzeitig informiert und berührt und gelesen gehört.
ANDREAS.PAVLIC. DIE ERINNERTEN. Edition Atelier 2021. ISBN 978-3-99065-058-5