Sofort wird man sensibilisiert. Nicht der Geruchs- oder der Sehsinn ist es, auf den der Autor unsere Aufmerksamkeit lenken will. Die Ohren sollen wir spitzen. "Geräusche" nennt er sein erstes Kapitel. Sie blieben uns in Erinnerung. Durch sie würde das Geschehene sortiert, verworfen und wieder gefunden. Eine interessante Ansicht. So exklusiv kann das aber fast nur ein Musiker behaupten. Und das ist der Protagonist, der hier seine Geschichte erzählt, auch: Petr Bem ist Anfang zwanzig, als er beschließt, Prag zu verlassen und in den Westen zu ziehen. Berlin ist sein Ziel. Im ehemaligen Ost-Berlin fühlt er sich wohl. In der U-Bahnstation Weberwiese, die für Petr wie ein gekacheltes Badezimmer wirkt, begegnet er Pancho Dirk, einem ehemaligen Ost-Deutschen. Die beiden jungen Männer, die sich mit ihren Gitarren in der U-Bahnstation kennen lernen, weil der eine Feuer und der andere Zigaretten hat, verstehen einander von Beginn an, auch wenn sie nicht immer einer Meinung sind. Petr kann bei Pancho Dirk einziehen und gemeinsam gründen sie die Punk-Rock-Band "U-Bahn" - eben weil sie einander dort zum ersten Mal begegnet sind und auch weil dieser Name alles beinhalte, was für ihren Musikstil spreche: Schwärze, Krach und Tempo.
Zu diesem Handlungsstrang, der aufgrund des Name-Dropings und der Lethargie der Protagonisten in erster Linie an all die deutschen Pop-Romane der letzten Jahre erinnert, knüpft eine Liebesgeschichte an, die in ihrer Melancholie und ihrem Fernweh Erzählungen von Judith Hermann oder Romanelementen von Tanja Dückers gleicht. Nichts Neues ist auch die Auseinandersetzung mit dem wiedervereinten Deutschland in der Stadt Berlin, in der die Teilung nach wie vor in den einzelnen Stadteilen spürbar ist.
Die Beschreibung der Stadt und hier vor allem ihrer Unterwelt, den U-Bahnhöfen und den Menschen und U-Bahnen, die darin unterwegs sind, hat stark naturalistische Elemente, die diesem sonst eher schnell und popig erzählten Roman zwischendurch eine ganz eigene Stimmung verleihen. Eine Erzählmontage, die ein bisschen an Wim Wenders Film angelehnt sein könnte. So richtet der Erzähler seine und unsere Auge einmal auf den Himmel über Berlin, der ihm ähnlich grau erscheint, wie der Himmel unter Berlin: "... wälzen sich graue Wolken von einer Seite auf die andere, sie sind wie Luftballons auf dem Meer, das vom Wind aufgewühlt wird. Die Dunkelheit bedeckt immer noch die Straßen mit ihrer blickdichten Watte." An solchen Stellen hört man beim Lesen den Wind blasen und die U-Bahn in den Schächten poltern und rattern.
Das Natürliche des Himmels über Berlin unterscheidet sich für den Erzähler nicht von der Natürlichkeit des Himmels unter Berlin. Für ihn sind die U-Bahnschächte ebenso ein Teil der Stadt wie der Himmel über ihr. Die Seelen der Toten, die nach wie vor herumirren, bewegen sich bei Rudis nicht in einer tristen Unterwelt, sondern lassen unter der Großstadt einen zweiten Himmel entstehen. Sie flößen den toten Gängen Leben ein. Unbehaglich wird einem, wenn man diesen Teil in der U-Bahn sitzend liest.
Zuweilen gruselig und in ihrer Phantastik an die Novellen der Romantik erinnernd bilden diese Episoden in sich eigene kleine Erzählungen.
Der junge Autor hat in seinem Debütroman viele Elemente klug miteinander verknüpft. Besonders das offene Ende der Liebesgeschichte zwischen Petr und Katrin erscheint nachvollziehbar. Zwischendurch muss der Leser aber immer wieder Geduld haben und bereit sein, sich auf übertriebene Bilder einzulassen, oder akzeptieren, dass sich die jungen Leute nach einem anderen Leben sehnen, aber nichts dafür tun diesem einen Schritt näher zu kommen.
Ein Großstadt-, Nach-der-Wende-, Berlin-Roman und Pop-Märchen von einem aufmerksamen Beobachter. Auf jeden Fall interessant zu lesen.
Jaroslav Rudis, Der Himmel unter Berlin, Rowohlt Berlin, 2004, ISBN 387134-4966