Auf einem Flohmarkt findet Luise einen Wachszylinder, mit dem vor über 100 Jahren Ton aufgezeichnet wurde. Die Beschriftung nennt ein Datum: 1903, und den 2. Bezirk in Wien, wo auch Luise wohnt. Was sagt die ferne Stimme? Wie hören wir zu und was sind wir bereit zu verstehen? Diese Fragen begleiten alle Figuren: Luises Lebensgefährten, den Tonarchivar Emil, der es liebt, das Knacken des Eises und das Rauschen der Straßen aufzunehmen; ihren Freund Milan, der sich in Sehnsucht zur schönen Zorica aus Novi Sad verzehrt; ihre Freundin Julia, die sich mit ihrer alkoholkranken Mutter konfrontieren muss; und den alten Josef Grasl, Luises Vater, der die Stadt auf der Suche nach den Gespenstern der Vergangenheit durchstreift.
Die Figuren purzeln so daher in dem kapitelreichen Roman und wechseln sich auch ab in der Präsenz, in der Sie soeben feststecken und in den Lebensweltaufgaben, die Sie zu bewältigen haben. Was allen gleich ist, ist die Suche nach dem Sein und bestenfalls nach dem Sinn des Lebens.
In einer bildreichen, fein gesetzten Sprache sind wir als Leser mittendrin im Geschehen der Zeit und erleben eine Geschichte in der Geschichte hautnah mit, bevor uns die Autorin sowohl in eine andere Zeit, als auch einen anderen Ort in eine ganz andere Welt verschleppt; und alle sind irgendwie miteinander verbunden; das müssen wir uns als aufmerksame LeserInnenschaft allerdings erst erarbeiten.
Roter Faden Tonwalze
Der Faden, der sich durchzieht, an dem alle Figuren mal anstreifen, ist die Tonwalze.Sie gibt Töne von sich, die kaum entschlüsselbar erscheinen, jedoch immer anders interpretiert und gehört werden können, je nach den Möglichkeiten und Sichtweisen, die sich in uns auftun. So gesehen, hört jeder was anderes.
Die Geschichte der Tonwalze als Begleitfaden löst sich nicht auf, was ich wunderbar finde; denn der Klappentext verspricht scheinbar eine Familiengeschichte, die durch den Flohmarktkauf im fernen Mexiko ins Fließen kommt, und Familienrätsel, die aufgearbeitet werden können. Und genau das passiert nicht.
Schon das Titelbild und erst recht der Titel rücken unsere Selbstüberschätzung ins richtige Licht; auch von oben sieht die Welt zwar anders aus, verändert sich im Sinn jedoch kaum; weiters ist in den heutigen Häuserfluchten wohl kaum möglich zu erahnen, was sich oben verbergen könne, was wir erkennen mögen, wenn wir oben sind im Dachgeschoss. "Auf dem Berg sieht man den Berg nicht."
Man sieht nicht hinaus über den Horizont, man erahnt ihn nicht mal; wenn man in einer Häuserzeile im Niemandsland des Seins verschwindet. Ebenso erscheint die Mexikoreise von Luise dermaßen überschätzt, da man ja kaum den englischen Titel der Konferenz zu übersetzen imstande ist (also ich nicht).
Fische & Wale & Spanien
Je mehr ich nachdenke, umso mehr gefällt das Buch; es fordert die Leserschaft heraus mitzudenken, mitzuarbeiten, dem eigenen hinterher zu sehen und zu hören; obwohl so manche Längen drinnen sind, wo ich den Faden verloren habe und gegen Ende des Romans hin, hab ich mir schwer getan dran zu bleiben, wo's dann um Fische und Wale geht, und um die Spanienreise; es bleibt dennoch das Gefühl ein hervorragendes Romandebüt "geschenkt" bekommen zu haben.
Welch herrliche Gedankenreisen in die Einsamkeitswelten von Milan, die dann beinahe märchenhaft enden, indem Zorica aus Novi Sad - seine große scheinbar unerfüllte Liebe - tatsächlich vor seiner Wohnungstür in Wien, mit einem Koffer im Schlepptau, auftaucht. Oder die Beschreibung des Alt- und Krankwerdens der Mutter von Julia, und die damit verbundenen Auswirkungen; was es bedeutet Alkoholismus in der Familie aushalten zu müssen. Oder die berührende Alltagsbegebenheit verpackt in der Figur einer alten Frau, die von Emil eine Aufnahme ihres verstorbenen Mannes vorgespielt bekommt.
Natürlich gehört die Darstellung der Berufs- und Arbeitswelten dazu. Dass die Deutschlehrerinnen eigentlich ständig in der Prekariatsfalle stecken und nicht wirklich ein finanzielles Auslangen finden, da diese Jobs, die soviel Einsatz und Hingabe erfordern, überhaupt nicht adäquat bezahlt sind. Das ist die Realität. Leider.
Letztendlich spiegelt sich der Lebenssinn in der Darstellung der Möglichkeiten an der "Zugehörigkeit" und der "Teilhabe an der Gesellschaft", was Rosemarie Poiarkov vortrefflich gelungen ist.
"Und Sie sah mich an, lächelte dieses verdammte Lächeln und sagte, die fröhlichen Menschen. Alle sind fröhlich im Bad. Alle sind glücklich am Strand. >Wer am Strand nicht glücklich ist<, lachen alle Leute fröhlich, >hat auf dieser Welt nichts verloren.< Julia kniff die Augen zusammen."
ROSEMARIE POIARKOV. AUSSICHTEN SIND ÜBERSCHÄTZT. Roman. Residenz Verlag 2017. ISBN: 9783701716777