AUFRUHR DER MEERESTIERE

Autor*in: MARIE GAMILLSCHEG
REZENSION: Martin Heidl
"Luise ist klug, Luise ist unabhängig, Luise ist eine Insel. Als Meeresbiologin hat Luise sich einen exzellenten Ruf erarbeitet, ihr Spezialgebiet: die Meerwalnuss, eine geisterhaft illuminierte Qualle im Dunkel der Ozeane. Als Luise für ein Projekt mit einem renommierten Tierpark nach Graz reisen soll, zögert sie nicht lang. Doch Graz, das ist auch ihre Heimatstadt, das ist die Wohnung ihres abwesenden und plötzlich erkrankten Vaters. Und das ist die Geschichte einer jahrelangen Sprachlosigkeit und Fremdheit zwischen ihnen.
Befreiung aus den Zwängen der eigenen Kindheit, des eigenen Körpers und aus den Gesetzen, die andere für einen gemacht haben. Es ist zugleich der Versuch, die Unmöglichkeit einer Beziehung zu erfassen: zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Vater und Tochter."

"Wir" erfahren etwas über das Lebensgefühl einer 30-jährigen Frau mit akademischer Basisausbildung und scheinbar positiven beruflichen Zukunftsaussichten - daraus resultierend natürlich auch die privaten Umstände. Soweit die vorherrschende Hoffnung der allgemeinen Meinungsgültigkeiten.
Nur Marie Gamillscheg spielt da nicht mit.
Schon im ersten Roman "Alles was glänzt", erschienen 2019, nimmt uns die Autorin mit in eine verschwindende Welt.

Quallen

Diesmal sucht eine junge Frau Halt, Sicherheit in einer verloren geglaubten Welt.
"..., dass es dort draußen längst eine Gegenwart gab, ein Heute, mit dem sie nichts mehr zu tun hatte."
Die Quallen, die bunt und hell leuchten, sind als Sinn und Bezugspunkt des Lebens nicht hilfreich.
Als konstruierte Berufung im Arbeitskontext, der auch zum Lebenskontext wird, schon; nur kann die Berufung auch tödlich enden (siehe die Tierpflegerin, die von einem Leopard getötet wird).
"..., all den lästigen Unsicherheiten, in denen sie besonders gut war, für ein Leben, das sie nur in den Quallen fand. Und jetzt lösen die Quallen sich auf, ..."
In einer Beziehung zur Welt stehen; da gibt es keine Überlegungen und Alternativen.
Aber welche?

Luise probiert aus, reist, arbeitet "wissenschaftlich", lebt mal hier, mal da, hat Begegnungen, aber keine Beziehungen - schließlich kehrt sie nach Graz zurück ...
Identität, Heimat, Familie - wer bin ich und wo will ich hin?
Das sind die Fragen, die Luise sich stellt und versucht zu beantworten, aber ein Trost; es gibt keine Antworten, nur Versuche eines Lebens und das ist das Leben.
Ein Buch, welches unter die Haut geht, wenn man(n)/frau sich darauf einlassen kann und die Sichtweisen einer jungen Erwachsenen versucht zu lesen.
Sidestepes auf die Wintertourismusindustrie und die Dirndl/Lederhosenfraktion erhellen so manche, vielleicht zu langen Befindlichkeitsbeschreibungen, um Luise.
"Vor der Tür passierte ein Montag, als wäre das Wochenende nie gewesen."

Beim Lesen erwischte sie mich, nahm mich mit, in die so gar nicht beleuchteten Welten der Hoffnungslosigkeit der Zeit; ein Zoo als Fluchtpunkt, als Zugehörigkeitsmetapher, durchzogen von Gitterstäben - die Rettung ...?

MARIE GAMILLSCHEG. AUFRUHR DER MEERESTIERE. Luchterhand-Verlag. 2022. ISBN 978-3-630-87562-0