AM SEE

Autorin: KAPKA KASSABOVA
REZENSION: Martin Heidl
"Fischer, Hausierer, Witwen, Waisen - Opfer, Täter und jene, denen es gelungen ist, sich aus den Verstrickungen zu befreien. Wie in einem Brennglas werden die Konflikte und Tragödien von Nationalstaaten in jenem Winkel Europas sichtbar, in den uns Kapka Kassabova führt: das zwischen Nordmazedonien, Albanien und Griechenland aufgeteilte Gebiet um den Ohrid- und Prespasee. Es ist verbunden mit ihrer eigenen Familiengeschichte, und so wird aus der Erkundung einer wunderschönen Gegend, ihrer Historie und politischen Verwerfungen eine Reise in die eigene Vergangenheit. Kassabova versteht es, die Zusammenhänge zwischen Topografie und Biografie bloßzulegen und Menschen zum Erzählen zu bringen, deren Schicksale die Zerrissenheit der Jahrhunderte spiegeln."
Soweit der Verlagstext und wir sollten nicht enttäuscht werden ..., denn es kommt tatsächlich so.

Das erste Buch, "Die letzte Grenze" erschien 2018, mit dem sie auch ausgezeichnet wurde mit dem Nayef Al-Rodhan Prize der British Academy. Kassabova 1973 in Sofia geboren, lebt nun in Schottland; und wird am 19. November 2021 einen seltenen Österreich-Besuch abstatten; in der Minoritenkirche in Krems/Stein bei den Europäischen Literaturtagen ist das Thema "Männliche Routen und weibliche Reisende".
Um die verbotenen Orte ihrer Kindheit zu sehen, unternahm Kapka Kassabova eine Reise in ihre Heimat. Was sie entdeckte, waren Wälder, Gebirge und Landschaften, die ihr Herz stehenbleiben ließen, so schön sind sie. Dort, wo Bulgarien, Griechenland und die Türkei aufeinandertreffen, das alte Thrakien.

Auge der Erde

Und nun ist der "See" erschienen.
Eine Reise zu den Vorfahren in Krieg und Frieden. In einer Übersetzung von Brigitte Hilzensauer aus Wien.
Als Begleiterin und Wegweiserin dient die "Via Egnatia", die von Durres (Albanien) bis Istanbul in der Türkei führt.
Und die Reise hat es in sich ...
Historische Abrisse neben schicksalshaften Biographien und dazu die eigene Familiengeschichte sind eine Melange, die es dem Lesenden erlaubt tief in die Seen einzutauchen.
Henry David Thoreau, und einige "Andere" werden jedem Kapitel vorangestellt:
"Ein See ist der schönste und ausdruckvollste Zug einer Landschaft. Er ist das Auge der Erde. Wer hineinblickt, ermisst an ihm die Tiefe seiner eigenen Natur".

Wer sich darauf einlässt und der Autorin nachfolgt, der wird belohnt werden.
Und, was ich selbst erst beim Lesen erkannte; das Tempo reduzieren - die beiden ältesten Seen Europas wirken lassen.
Und dann kommen sie, die Geschichten über den Sufismus, die Derwische, Texte von Volksliedern, über ein Gefängnis in Albanien, über die Flucht einer Familie aus Albanien im selbstgebauten Boot ...
"Der See drang in das Zimmer ein" - beim Aufenthalt im Kloster Sveti Naum.
"Die Welt, ließ man sie nur in Ruhe, war eins. Ich empfand ein Hochgefühl, wie immer, wenn ich an den See kam - ein Hochgefühl der Ganzheit."
Die einzigartigen Begegnungen mit den Menschen vor Ort werden zu einem großen Ganzen.

Sozusagen besucht uns beim Lesen eine Philosophie der Gegend:
Mit Passagen wie:
"Das Mazedonien vom See hatte keine Lust auf Krieg." oder "Ich bin kein Experte. Ich bin bloß ein Narr, der froh ist, am Leben zu sein." und "Die Kormorane schrien. Ich saß auf der niedrigen Steinmauer, wo der Buchhändler Elija seinen Stand für den Nachmittag aufbaute. Er stammte aus dem Dorf der Kirschen und führte seine Bücher in einem Karren mit, den er die Straße entlangschob; Auto hatte er keines. Immer hatte er ein, zwei Bücher dabei, die mich interessierten.
Für einen Mann der Bücher war er sehr wenig schwatzhaft. Wenn er fertig war, saß Elija neben mir, und wir betrachteten die Wellen, die sich an der Promenade brachen, den arabischblauen See und die fernen Berge, ausgebreitet vor uns wie ein stilles Gedicht."
Ein wirkmächtiges Buch mit einer Beschreibung der Gegend - kein Reiseführer - und den Geschichten rundherum; ein Tauchgang mit der eigenen Entscheidungsmöglichkeit die Tiefe zu wählen.

KAPKA KASSABOVA. AM SEE. Zsolnay. 2021. ISBN 978-3-552-07231-2