ZORN UND STILLE

Autorin: SANDRA GUGIĆ
REZENSION: Martin Heidl
"Was heißt es, aus einem Land zu kommen, das es nicht mehr gibt? Die Fotografin Billy Bana ist eine moderne Nomadin, die ihre Herkunft scheinbar hinter sich gelassen hat. Als ihr Vater stirbt, wird Billy von der Vergangenheit eingeholt, ihrem Aufwachsen als Gastarbeiterkind in Wien: Was wurde aus den Träumen ihrer Eltern? Warum kam es zum Bruch mit ihrer Familie? Und wie konnte ihr kleiner Bruder bloß spurlos verschwinden? Ein brillant erzählter Familienroman über Freiheit und Verantwortung, Liebe und Verlust, Herkunft und Selbstbestimmung."

In den Neunzigern war's, als der Krieg vor unserer Haustüre parkte, den keiner verstand; in den Siebzigern war's, als die Holzbaracken am Parkplatz vor der Fabrik für die Gastarbeiter aus Jugoslawien errichtet wurden; nun ein Buch von Sandra Gugić, "Zorn und Stille", das mich (uns) in die Zeit führt, die unter ferner liefen, und / oder nebenher angeschwemmt an unsere Lebenswelten, fein abgegrenzt vom eigenem Alltag.

Überlebende

Das Buch gegliedert in vier Teile und einen Prolog. Jacques Derrida eröffnet: "... Wir sind strukturell gesehen Überlebende", "Was heißt es aus einem Land zu kommen, das es nicht mehr gibt?" Was es heißt, das beschreibt die Autorin anhand der Geschichte (ihrer Geschichte?) einer Familie; die Eltern Sima und Azra, die Geschwister Billy (eigentlich Biljana Banadinović) und Jonas Neven.

Die vier Kapitel, jeweils aus der Sichtweise der Handelnden, oder der "gehandelt" werdenden; beginnend und endend mit Billy: "Wenn du mittendrin in einer Geschichte steckst, ist es noch keine Geschichte, mehr ein Getöse, ein Rauschen. Es beginnt erst eine Geschichte zu werden, wenn du sie jemandem erzählst." Aus der Sichtweise von Azra - der Mutter - und anschließend von Sima - dem Vater - mit ihren Herkunftserzählweisen, Beweggründen und Lebensumständen.

Verborgene Lebenswelt

Das Symbol des Seins ist der Hase oder das Kaninchen (weiß), der durch alle Teile des Romans führt; und dessen Tod durch den Wagen, durch das eigene Versagen oder Festhalten ... als Sinnbild der Zerstörung einhergeht; ein Symbol, welches das Titelbild ziert, mit einem Auge auf den Betrachter / die Betrachterin zielt; als Kaninchen mit der Angst vor der Schlange. So ist es mir als Leser mit dem Roman gegangen - eine verborgene Lebenswelt, die mich bisher am Rande streifte, da "wir" selbst mit "unserem" Krieg beschäftigt waren und sind, und plötzlich ein möglicher wuchtiger Einblick in die Nachbarschaft ...

"Wir waren anders, wir waren ein Klischee, wahrscheinlich waren wir ganz gewöhnliche Irre. Aber schon früh war ich mir sicher, dass hinter der Fassade aus Ordnung, Zurückhaltung und Bildung in den Familien der anderen dieser Wahnsinn ebenso lauerte."
Wie ergeht und erging es den Gastarbeitern? Wie geht es der 1. bis 4. Generation, die nicht willkommen waren und sind, als "Gleichberechtigte" im Zirkus des Alltags. Deren Aufstieg in die Normalität kaum vorgesehen war und ist. Heimat, Heimat - was mag das sein?

Auf das und noch mehr können Sie sich einlassen, wenn der Zorn sie irgendwann loslässt im Sog des Romans und die Stille einkehren kann, wo die Bilder des Lesers / der Leserin vermengt werden können mit den Bildern des Romans.
"Vielleicht bin ich immer gerade dort glücklich, wo ich nicht bin."
und
"... wie gehen die Serben um mit ihrer Kriegsschuld?"

Schuld und Verantwortung

Das frage ich mich schon lange als gelernter Österreicher - ich meine damit die "eigene" Schuld und Verantwortung.
Aber die Hoffnung bleibt am Ende: "Es gibt einen Raum, in dem niemand im Besitz der Wahrheit ist und jeder das Recht hat, verstanden zu werden."

Dazwischen erfahren wir etwas über "Serbien", historisches und persönliches; über Emir Kusturica und Marina Abramović, sowie Radovan Karadžić. Raffinierte Spannungsbögen und kreative Impulse der Beschreibungen: Der verloren gegangene Koffer von Jonas Neven wird von einer Frau am Flughafen ersteigert und Jahre später von deren Tochter entdeckt; ein Geheimfach offenbart Texte ("schreib alles auf" - sagte ihm mal seine Schwester), die Erinnerung zulassen, doch keine Erkenntnisse über seinen Verbleib anbieten.

Leseempfehlung!

SANDRA GUGIĆ. ZORN UND STILLE. Hoffmann und Campe. 2020. ISBN 978-3-455-00976-7