GRELLE MILCH DER TRÄUME

Autorin: BARBARA SCHWARCZ
REZENSION: Markus Köhle
Lass dich zurück in die späten 1970er Jahre beamen. Mitten in die Sommerferien hinein. Stell dir vor, du bist 7 Jahre alt, hast das erste Schuljahr hinter dich gebracht, hast zwei ältere Schwestern und zwei ältere Brüder. Stell dir vor, du bist die Nachzüglerin, wächst in der Stahlstadt, am Stahlstadtstadtrand, im Glöcknerweg in der Wohnsiedlung Kleinmünchen auf, einem Siebzigerjahre-Genossenschaftsarchitektur-Bau und zwar genau im dritten Stock. Stell dir vor, alle, die du magst, sind schon auf Urlaub, nur du musst warten, bis es endlich los geht, bis endlich die Reise nach Ungarn an den Plattensee angetreten wird. Stell dir vor, du kannst es kaum mehr erwarten, du hast dein Lieblingsbuch "Die Kinder aus Bullerbü" von Astrid Lindgren schon zig Mal gelesen, ja es gar schon abgeschrieben, stell dir vor, aus dem Zimmer der Brüder klingt laut irgendwas in einer Sprache, die du nicht kennst, die aber die Sprache aller Rock- und Popsongs zu sein scheint.

Stell dir vor, du stehst Wörtern und Sprache generell skeptisch gegenüber, weil du die Erfahrung gemacht hast, dass nicht alle Sprachen gleich angesehen sind und nicht alle Wörter überall Gültigkeit haben. Stell dir vor, du bist sehr sensibel, was Sprachgebrauch aber auch was Gerüche angeht und du träumst gern, findest dann aber nie die passende Sprache, deine Träume in entsprechende Sätze zu kleiden. Stell dir vor, du hast mehrere Sprachen im Kopf, fühlst dich aber in keiner wirklich zu Hause. Ohnehin ist die Sprache ein Zuhause, dessen Eingang oftmals verstellt ist. Stell dir vor, du schreibst lieber, als dass du redest, weil man da länger über die Wortwahl nachdenken kann und du bist schon sehr nah dran an der Hauptfigur von "Sommerverschwendung" dem Romandebüt von Barbara Schwarcz.

Diese kleine Heldin ist anders

Ja, es geht um Kindheitserinnerungen aber doch auch um viel mehr. Die Erzählerin geht sehr sensitiv vor. Es wird in die Sprache genauso eingetaucht wie in Gerüche. Die Erzählerin hat auch ein Faible für Phonetik und interfamiliäre, sprachliche Eigenheiten. Das ist mal analytisch, mal skeptisch, mal einfach nur lustig. Erzählt wird in Du-Form, mal sehr nah dran an der Figur, mal mit Distanz kommentierend. Dieses Du, diese kleine Heldin ist anders. Die Geschwister sind roh (oder einfach in der Pubertät), das Du sensibel (oder halt einfach ein waches Kind). Vater ist ein Ungarnaufstand-Flüchtling, Mutter aus Siebenbürgen. Die Muttersprache des Vaters bleibt ebenso geheimnisvoll wie die der Mutter und der Mühlviertler Dialekt ist eine eigene Geschichte. Aber es liegt was in der Luft, der Sommer ist kurz davor zu explodieren, danach wird alles anders sein.

Die kleine Heldin wird sich baden im Balaton und der ungarischen Sprache. Sie wird die Vielfalt des Ungarischen lieben lernen und sich für keine ihrer "Schattensprachen" mehr schämen. Sie wird gleichzeitig abheben und Wortschatzgräberin werden. Sie wird sich nicht mehr von "Tupperwareberaterinnenverkaufsgerede" einwickeln lassen, aber stets an die Kraft der korrekten Verwendung von Partizipialkonstruktionen glauben, denn Sprache ist ein empfindliches Organ, Sprache kann weh und wohl tun. "Sommerverschwendung" ist eine Wohltat, ist ein behutsames, rundum schönes Buch.

BARBARA SCHWARCZ. SOMMERVERSCHWENDUNG. Roman. Picus 2019. ISBN 978-3-7117-2083-2