SEILTÄNZER UND ZAUNGÄSTE

Autor: JÖRG ZEMMLER
REZENSION: Wolfgang Kühn
Time takes a cigarette! Ein Wahnsinn, wie die Zeit vergeht! Ganze vierzehn Jahre (Ausgabe # 37 / Frühjahr 2006) ist es her, dass wir Jörg Zemmler zum DUM-Interview gebeten hatten. Damals war der 1975 in Bozen geborene und in Wien lebende Südtiroler einer der bekanntesten Vertreter der aufstrebenden österreichischen Poetry Slam Szene. Jörg Zemmler ist seit 2004 sowohl als Buchautor, als auch als Musiker in Erscheinung getreten, der in den Nullerjahren sogar einmal den Protestsongcontest für sich entscheiden konnte.

2019 ist im Klever Verlag sein jüngster Band "Seiltänzer und Zaungäste" erschienen, der den Untertitel "114 Begegnungen" trägt und den "Kleinmütigen und Mutigen" gewidmet ist. Der Autor hat in diesem Buch 114 (keine Ahnung meinerseits bzw. Andeutung des Verfassers, warum ausgerechnet diese Anzahl) Miniaturen versammelt, abwechselnd Männer und Frauen, die allesamt von AußenseiterInnen der Gesellschaft handeln, oft nach außen hin typische 0815-Menschen, die bei näherer Betrachtung doch etwas Un- bzw. Außergewöhnliches an sich haben, das es wert ist, darüber zu schreiben. Wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion zu ziehen ist, lässt sich schwer sagen, so manchen ProtagonistInnen mag man schon begegnet sein, manche Wesenszüge gar an sich selbst schon entdeckt haben, je nachdem, ob man sich zu den Seiltänzern oder Zaungästen zählt. Oder vielleicht sogar zu beiden?

Ameisen rot anmalen

Ersteren sind im Buch ein paar wunderbare Miniaturen gewidmet. Mimi beispielsweise, die es diskriminierend findet, dass Afrika am Globus "unten" ist, während Europa "oben" ist, und daraufhin die Weltkugel mit Schleifpapier "neutralisiert". Oder Evi, die, um ihr eintöniges Leben ein bisschen bunter zu gestalten, die Ameisen in ihrer Wohnung rot anmalt. Oder Mia, die zum Zwecke der Zeitersparnis in der Nähe ihrer Wohnung einen Zebrastreifen in Eigenregie um hundert Meter "verlegt", sprich in akribischer Arbeit neu anlegt. Oder Marianne, die auf einen Hügel wandert, um von dort dreißig mit Helium befüllte Luftballons mit Botschaften auf Papier steigen zu lassen.

Die meisten Miniaturen im Buch sind Zaungästen unserer Gesellschaft gewidmet, wie der an den Rollstuhl gefesselten Stephanie, der es Freudentränen in die Augen treibt, als in ihrer Wohngegend eines Tages rollstuhltaugliche Niederflurbusse eingesetzt werden, die es ihr fortan ermöglichen, ohne fremde Hilfe in die Stadt zu gelangen. Oder der unangepasste Außenseiter Theodor, der im Versuch sich anzupassen scheitert und sich schließlich selbst aufgibt. Oder Bertram, der sich mit einem Kübel mit warmem und mit Glasreiniger versetztem Wasser und einem Wasserabzieher an eine Ampelkreuzung stellt, um den anhaltenden Autos kostenlos die Scheiben zu reinigen. Oder Zoltan, der aus seinem jugendlichen Putzfimmel einen Beruf macht und eine Reinigungsfirma gründet, diese Firma, nachdem er genug Geld erwirtschaftet hat, dann verkauft und die Arbeit wieder zu seinem Hobby macht.

Autistisch veranlagte, Zwanghafte, aus der Norm gefallene und viele andere Randfiguren der Gesellschaft - sie alle hat Jörg Zemmler vor den Vorhang geholt und ihnen mit diesem leisen, melancholischen Buch ein literarisches Denkmal gesetzt. Ein Dankeschön an Ralph Klever und seinen engagierten Verlag, solche schönen Bücher uns Leserinnen und Lesern zu schenken.


JÖRG ZEMMLER. SEILTÄNZER UND ZAUNGÄSTE. Klever Verlag. 2019. ISBN 978-3-903110-53-3