THAT’S THE REAL ALLTAG, ALTER!

Autorin: KATHERINA BRASCHEL
REZENSION: Markus Köhle
Da werden wir alle zwei Monate eingesperrt und zeitgleich erscheint ein Buch mit dem Titel "Es fehlt viel". Prophetischer geht's nicht. Freilich fehlt viel. Mir wochenlang sogar das Buch zu kaufen. Denn im Netz bestell ich keine Bücher. Ich will den Kontakt mit meinen Literaturdealern. "That's part of the game", würden sie in "The Wire" sagen. Ich habe also wochenlang auf "Es fehlt viel" zu warten und mich vorzufreuen. Für Vorfreude war grad ohnehin richtig viel Zeit. Vorfreude auf all das Fehlende. Da geht es der Autorin sicherlich nicht anders. "Es fehlt viel": Lesungen zum Beispiel, eine angemessene Feier des Buches.

Speziell wenn ich ähnliche Kneipenpräferenzen habe wie die jeweiligen Autor*innen, bin ich ganz besonders am Vortrag und der Art der Buchpräsentation interessiert. Außerdem rahmen das Buch drei Aussagen, die ordentliche Ansagen sind, was ich gut finde und wie diese dann live eingelöst werden, interessiert mich einfach. Diese Gelegenheit aber werde ich wohl frühestens im Herbst haben, noch aber ist Frühling. Immerhin. Das Buch habe ich mittlerweile und die drei Ansagen sind: 1. Auf der Rückseite des Coverdeckblattes, erster Satz: "Dies ist ein Schreiben mit Zweifel." 2. Auf Seite 7, dem Text vorangestellt: "Dieser Text ist ein Versuch." und auf der letzten Seite - der letzte Satz der Biografie: "Sie glaubt an feministische Solidarität, gutes Bier und die zarte Macht der Sprache."

Schreiben mit Zweifel

Das sind schon hilfreiche und brauchbare Vorgaben. "Ein Schreiben mit Zweifel" also. Ich summe kurz Yasmo vor mich hin "da ist kein Platz mehr für Zweifel", bin dem Zweifel aber natürlich geneigt. Wenn der Mut in der Leber sitzt, sitzt der Zweifel im Hirn und beides zu koordinieren und in den Griff zu kriegen, ist die große Lebenskunst. Dem Zweifel als Schreibhaltung wird sodann der "Versuch" als Textsorte hinzugefügt. Diese Gattung ist natürlich vorbelastet. "Versuch über den Stillen Ort" fällt mir ein und - vermutlich passender - "Versuch über den geglückten Tag", alle anderen Versuche Handkes müsste ich googeln. Was ich nicht mache. Was auch die Autorin im Text bei Unsicherheiten nie macht, was den Text sympathisch, persönlich und nicht so gelehrt wie viele Text macht. Aktuelle Texte kommen momentan ja oft so wissensprall zurechtgegoogelt daher, dass sie mich gleich abschütteln (kann ich gleich Wikipedia Zufallsartikel lesen). Und dann noch dieses biografische Glaubenstriumvirat - feministische Solidarität, gutes Bier, zarte Macht der Sprache - jegliches Virat freilich gleichsam demontierend. Das ist schon viel!

Ja, "Es fehlt viel" ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Buch. Das transportiert auch das Äußere, doch Äußerlichkeiten sei hier nicht weiter Beachtung geschenkt. Gehen wir ins Eingemachte. Der Text kommt quer daher. Der Text grätscht rein. Der Text sucht schon mit dem ersten Wort, dem ersten Satz den "Ausgang?". Der Text hat sich dem Flattersatz verschrieben. Der Text mag's links- und rechtsbündig. Zitate kommen typografisch immer und inhaltlich mitunter rechts daher. Sie sprechen alle Zungen und weisen alle möglichen Einheiten über Zeit, Ort und Sprecher*in auf. Auf der Zitatebene ist dieser Text ein Buch über den öffentlichen Verkehr und all seine Nutzer*innen.

O-Ton-Interventionen

Der Text ist aber auch ein Tagebuch (es geht um die Jahre 2017/2018), er ist Journal, Notizbuchverdichtung und persönliche Alltagsdokumentation mit O-Ton-Interventionen. "Ich höre, sicher selektiv, und dokumentiere." (S. 40). Wir erfahren viel mehr über die Autorin, als der Titel vermuten lässt. Und wir erfahren viel mehr über Autorin und Text im nächsten DUM. Denn da wird Katherina Braschel interviewt werden. Nützt die Gelegenheit, um euch in der Zwischenzeit das Buch zuzulegen. Gut angelegte 10 Euro für komprimierte zwei Jahre, die klar machen, was uns allen in den letzten zwei Monaten fehlte: Ein offenes Zugehen auf all die Dinge, die das Leben der Normalnormalität zu bieten hat und etwas draus machen, das Haltung, Witz und Eigenständigkeit hat.

KATHERINA BRASCHEL. ES FEHLT VIEL. edition mosaik. 2020. ISBN 978-3-9504843-1-1