Die Auseinandersetzung mit Randgruppen. Nicht unbedingt lustig und unterhaltsam. Vielmehr ist sie die Konfrontation mit den eigenen Grenzen, Ängsten, Illusionen, Träumen, Phantasien und Ansichten. Wir werden aufgefordert uns aus dem Alltagsnest zu schälen und uns Fragen zu stellen, die nichts mit unserem Leben zu tun haben. Wen betrifft das? Warum? Wie weit geht das Vorstellungsvermögen? Wo beginnt Voyeurismus? Wie gut kennt man die Stadt und ihre Menschen? Welches Maß an Ignoranz ist Selbstschutz?
Nach den egozentrischen, moralischen Gedanken - man hat aufgehört, die eigene Ekelschwelle austestend, das Cover zu betrachten und endlich das Buch aufgeschlagen - muss man erst Mal schallend lachen. Es ist Dagmar Koller und Helmut Zilk gewidmet. Man hält es für eine gelungene Provokation. Dass dieses Buch über einen dunklen Fleck auf dem Wiener Stadtplan ausgerechnet dem Altbürgermeister gewidmet wurde, erklärt sich dem mit den Geschehnissen in der österreichischen High Society wenig Vertrauten etwa 100 Seiten später in dem Titel gebenden Portrait "17 Jahre ohne Sex".
Das Thema harter Tobak, das Cover abschreckend wie der Titel. Und so wird man auch sofort mit einer unerfüllten Liebe konfrontiert. Dargestellt in zwei Portraits, dem des Liebenden, der im Hotel zu Gast ist, und dem der Geliebten, die im Hotel Bauer wohnt.
Fixer Bestandteil des Wiener Rotlichtmilieus
Das Hotel Bauer - wie man im Editorial des Herausgebers bereits erfahren hat - war im 2. Weltkrieg das Bordell der Wehrmachtsoldaten und ist seither fixer Bestandteil des Wiener Rotlichtmilieus. Ebenso ist das Stundenhotel eine Insel (sozial) Gestrandeter. In einzelnen Portraits wird man mit verschiedenen Personen und ihren Schicksalen bekannt gemacht, wobei die Namen immer vom Herausgeber geändert wurden, das Alter aber zu stimmen scheint. Verfasst sind diese Lebensgeschichten im Stil der "oral history". In Kombination mit den Fotografien von Gregor Dujmic stellen sie die Dokumentation des real existierenden Schauplatzes und seiner Geschichte dar.
Zwischen diesen Realitätsbrocken bekommt man Fiktionshappen zur Auflockerung serviert: Erzählungen junger österreichischer Autoren, die sich zum Teil selbst kurzfristig für Recherchezwecke im Hotel Bauer einquartiert hatten. Stephanie Mold erzählt stark autobiographisch die Geschichte einer jungen Malerin aus Linz, die im Hotel Bauer für eine Geschichte recherchiert und sich dabei mit einer der Prostituierten (die durchgehend als Huren bezeichnet werden) anfreundet. Robert Riedl gelingt mit "Vor den Schmetterlingen" eine phantasievoll erzählte, durch die Aufteilung in neun Erzählsplitter auch zeitlich interessant gegliederte Geschichte über die Liebe zwischen der Prostituierten, Einedraher-Eva, und dem Freier, Zwutschkerl-Ernst. Erzählen lässt er das Geschehen einen Insider, vermutlich eine Arbeitskollegin von Einedraher-Eva, die nach einem vorangestellten Zitat von René Char ("Hinwegspringen über die Wirklichkeit kann man nur, wenn sie emporragt.") ihren Bericht folgendermaßen beginnt: "Nein, Liebesgeschichte, nicht Liebe! Liebesgeschichte. Sicher gibt's da viele Klischees, eh klar, aber was stellst du dir vor unter einer Liebesgeschichte?"
Computermaus im Arsch?
Um Liebe geht es eigentlich in jeder Erzählung. Und in jedem der Portraits. Und stets auch um die Frage, wie wir uns etwas vorstellen. Zum Beispiel auch Grenzen. Wo wir sie ziehen (Liebe, Aufopferung, Prostitution).
Großartig sticht unter den Erzählern wieder einmal Markus Köhle hervor, der als einziger den Vorstellungsrahmen auf aberwitzige Weise sprengt. Unglaublich ist seine Geschichte "Filmriss". Im ersten Teilkapitel "Aftermaus" wachen wir mit dem Ich-Erzähler auf und sind alsbald sehr froh, dass nur ihm der Film gerissen ist, er uns aber mitnimmt auf die Abenteuerreise zurück in die Zukunft. Was stellen Sie sich unter einer "Aftermaus" vor? Doch sicher keine Computermaus im Arsch eines Menschen, oder? Aha. Eben. Unbedingt lesen!
Diese Buch ist: Besonders lesenswert.
17 JAHRE OHNE SEX. GESCHICHTEN AUS EINEM WIENER STUNDENHOTEL. Anthologie herausgegeben von Bernhard Salomon. Wien, edition a: 2005. ISBN 390003710-08